Eine weihnachtliche Ultrakurzgeschichte von Heidi Metzmeier

Budenzauber – Eine Weihnachts(ultra)kurzgeschichte

Heidi Metzmeier Icon

Sandra liebte Weihnachtsmärkte, nicht etwa für die Atmosphäre aus Glühweinseligkeit, Mandelgeruch und Glockengedudel, sondern wegen ihrer Verlässlichkeit. Der Standort der Wurstbude mit der vermeintlich längsten Thüringer der Welt war ebenso vorhersehbar, wie die Abfolge der Weihnachtslieder und die Farbe der Kugeln in den Tannenbäumen. Diese Kontinuität war exakt was sie jetzt brauchte, da ihr Leben drohte, aus den Fugen zu geraten.
Sie war eine Businessfrau durch und durch, doch die Kündigung hatte sie nicht kommen sehen. Ihr Arbeitgeber war bankrott und sie stand über Nacht auf der Straße.

Jetzt schlenderte Sandra durch die Reihen der Marktstände und schaute sich handgearbeiteten Schmuck an, den sie sich nicht mehr leisten konnte. Sie setzte sich stattdessen bei der „Strickliesel“ eine braune Wollmütze auf und betrachtete ihr blasses Gesicht in einem großen Handspiegel. Dabei fiel ihr Blick auf das Spiegelbild einen Standes hinter ihr, den sie noch nie gesehen hatte.

Die Holzhütte war über und über mit Lichtern bedeckt. Das windschiefe Holzschild versprach „Budenzauber“. Als sie näher kam, trat eine Frau im grünen Samtkleid hervor. Graue Locken umspielten ihre feinen Gesichtszüge. Sie hatte sich keck bunte Bänder in die Mähne geflochten.
Bevor Sandra etwas erwidern konnte, wurde sie bei der Hand gepackt und in die winzige Hütte gezogen. Dort bot ihr die Alte den Platz am gusseisernen Ofen an und gab ihr einen Tee.

„Schön, dass du den Weg zu mir gefunden hast“, sagte sie. „Du weißt, dass es lange Zeit ist für den Aufbruch. Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine neue.“

Sandra wusste nicht, was sie dazu sagen sollte und nippte stattdessen verlegen an ihrem Tee.
Was danach geschah liegt im Dunkeln, denn als Sandra wieder zu sich kam, stand sie mit der braunen Wollmütze in der Hand an die schmucklose Hütte der „Strickliesel“ gelehnt. Langsam drehte sie sich um, doch da war nichts, als eine kleine Gruppe schweigender Tannen, deren Zweige im leisen Windhauch verlegen wippten.

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