Der Buchverlag Literareon hatte im Sommer zu einem Kurzgeschichtenwettbewerb zum Thema „rosarote Brille“ aufgerufen. Bei mir hat das sofort Kopfkino ausgelöst, wobei etwas herausgekommen ist, das außerhalb meines üblichen Genres liegt: Liebesdrama. Was denkt ihr: Kunst oder Kitsch?
Juli schlich bereits zum dritten Mal an der Auslage des Optikers mit Namen „Durchblick“ vorbei und schaute verstohlen seitwärts in die Auslagen. In zentraler Position lag ein besonderes Modell und warf ihr verführerische Blicke zu. Die Beschilderung war knapp gehalten. Vintage, 350 Euro, las Juli. Wann hatte sie eigentlich zuletzt etwas spontanes, verrücktes getan? Es sprach Bände, dass ihr die Antwort darauf nicht einfiel.
Sie kaufte sich stattdessen ein Eis und setzte sich auf die Parkbank unter der Linde, die sie so sehr mochte. Das ausladende Grün, inmitten der Fußgängerzone, kam ihr wie ein Schutzschirm vor. Ein Ort der Ruhe. Dieser Baum strahlte Souveränität und Beständigkeit aus. Nicht umsonst hatten die Alten unter den Linden früher Gericht gehalten, dachte sie. Unwillkürlich wanderte ihr unruhiger Geist zum letzten Mal zurück, als sie hier saß. Marc hatte ihr einen sanften Kuss auf die Wange gehaucht, ihr ein wir sehen uns Kleine zugeraunt, war gegangen und nicht mehr zurückgekehrt. Sie verstand bis heute nicht warum.
Für Außenstehende waren sie das perfekte Paar gewesen. Er Unternehmensberater, sie Flugbegleiterin, immer unterwegs, in der Welt zu Hause. Sie hatte ihn zwischen zwei Flügen in Dubai kennengelernt und sich Hals über Kopf verliebt. Nach drei Jahren waren sie zusammengezogen. Doch berufsbedingt sahen sie sich manchmal wochenlang nicht. Ihren Freundinnen war es ein Rätsel, wie sie das aushielt. Sie wussten nichts von den zweisamen Wiedersehensfeiern die sie im kleinen, gemütlich eingerichteten Holzhaus am Stadtrand ausgelassen feierten, manchmal tagelang. Er hatte sie seiner Familie nie vorgestellt und sie hatte nicht gefragt. Überhaupt hatte er kaum über seine Vergangenheit gesprochen. Ihr war es gleichgültig, sie hatten sich und lebten im Hier und Jetzt. Bis vor sechs Monaten, als er verschwand und nicht wieder auftauchte – wie vom Erdboden verschluckt. Zuerst hatte sie panische Angst es wäre ihm etwas zugestoßen. Schließlich hatte sie die Polizei alarmiert. Die Polizeipsychologin hatte sich alle Mühe gegeben sie zu beruhigen, es gab keinerlei Hinweise auf ein Gewaltverbrechen. Die Botschaft die mitschwang, war für sie kaum zu ertragen: Er wäre nicht der erste Mann, der sich heimlich aus seiner Lebenssituation stiehlt. Auf die Panik folgte Wut, weil sie nicht verstand warum er ihr das antat. Was hatte sie falsch gemacht, dass er sie ohne jeden Hinweis sitzen ließ? Dann kam die Trauer. Sie war für Wochen in einer Flut aus Tränen fast ertrunken, hatte das Haus kaum noch verlassen.
Zuletzt kam sein Brief:
„Liebste Juli,
ich zerbreche fast bei der Vorstellung wie es dir gehen muss. Ich hatte mein Verschwinden weder geplant noch kommen sehen, aber im Gegensatz zu dir wusste ich immer, dass wir in geborgter Zeit leben. Ich war nie der, für den du mich gehalten hast. Ich weiß selbst nicht einmal, wer ich wirklich bin. Ich darf dir auch nicht mehr sagen, als dass ich in eine neue Rolle schlüpfen musste, weil mein wahrer Beruf – den ich immer vor dir geheim halten musste – das von mir verlangt. Aber ich möchte, dass du eines weißt: Meine Gefühle für dich waren immer echt. Du wirst mir das sicher nie verzeihen können, damit werde ich leben müssen.
Für immer Dein
Marc“
Etwas in ihr war in diesem Moment zerbrochen. Wie konnte sie je wieder einem Mann vertrauen?
Ein Vogel, der sich neben ihr auf der Parkbank niedergelassen hatte, riss sie aus ihrer Erinnerung. Juli stand mit einem Ruck auf, zog den Rock ihres bunt geblümten Etuikleides glatt und setzte sich in Bewegung. Wie hatte ihre Großmutter immer gesagt? Brust raus, Bauch rein, tief durchatmen und los! Sie ging mit festen Schritten auf den „Durchblick“ zu, öffnete die Tür und fand sich in einem Empfangsbereich wieder, der den Charme einer Augenarztpraxis versprühte. Zunächst schien sich niemand für sie zu interessierte. So nutze sie die Gelegenheit, um sich das Modell in der Schaufensterauslage, das ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, aus der Nähe anzusehen. Sie streckte gerade ihre Hand danach aus, als eine tiefe Stimme hinter ihrem Rücken fragte: „Kann ich ihnen helfen?“ Sie fühlte sich wie ein Kind, das bei etwas verbotenem ertappt wird und lief puterrot an. Schon ärgerte sie sich über sich selbst, wandte sich langsam um und stand nur Zentimeter entfernt von einem Mann mit hellgrauen Augen. Wie ein Husky, dachte sie, und schämte sich gleich darauf für ihre Vergleiche. Instinktiv machte sie einen Schritt Rückwärts, so viel Nähe empfang sie als unangenehm. „Ich interessiere mich für ihr Modell Vintage aus dem Schaufenster“, versuchte sie möglichst souverän zu klingen. Hatte er tatsächlich amüsiert für einen Sekundenbruchteil eine Augenbraue hochgezogen? Mit einer schwungvollen Bewegung hob er das Modell aus der Auslage und reichte es ihr. Sie setzte die Brille auf und betrachtete sich im Spiegel. Sehr auffällig, war das erste was ihr durch den Kopf ging. Ich kann mich dahinter gut verstecken, kam ihr gleich darauf in den Sinn. Ich sollte endlich wieder etwas wagen, dachte sie schließlich und sah den Mann, der immer noch hinter ihr stand, durch den Spiegel fragend an. „Steht ihnen super!“, kam es prompt zurück. „Gut, dann nehme ich sie.“
Als Juli den Laden verlies, schob sich gerade die Sonne zwischen zwei Wolken hindurch. Perfektes Timing. Sie ging die Straße entlang und dachte „fake it, till you make it!“ Ihre Neuanschaffung, die rosarote Sonnenbrille, würde ihr dabei helfen, die Welt wieder in einem positiven Licht zu sehen.
Was denkt ihr? Wird sich Juli fangen, oder doch wieder in Trauer verfallen? Kreuzt sich ihr Pfad noch einmal mit dem von Marc? Wüsstet ihr gerne mehr, oder reicht euch das? Träumt ihr die Story vielleicht selbst weiter? Schreibt mir gerne eine Mail. Ich bin super neugierig!