Kurzgeschichte "Die letzte Reise" von Heidi Metzmeier

Die letzte Reise

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„Ich hasse diese Jahreszeit!“, dachte Irmi zum wiederholten Mal an diesem Morgen. Dauernieselregen, Wind der einem die Haare vom Kopf fegt; Nebel, der sich im Hirn festsetzt oder besser noch Schneematsch, der nichts kann, außer die Böden der Wohnung in eine braune Pfütze zu verwandeln. Nein, der Winter war definitiv das Allerletzte im Jahr. Noch einen von dieser Sorte und sie würde aus dem Fenster springen.

Zu allem Überfluss war vor einer Woche ihre Nachbarin Erna gestorben. Sie hatten sich gut verstanden, obwohl sie gesellschaftlich überhaupt nicht zueinander passten. Sie, die ihren Lebensunterhalt mit Putzen bestritt und sich die Zwei-Zimmer-Wohnung in Bonn gerade so eben leisten konnte und die Bankiersgattin aus der Stadtvilla nebenan.

Ernas Mann Günther hatte mehr als einmal betont, dass sie Schwestern sein könnten, so ähnlich sahen sie sich. Erna hatte ihr Leben buchstäblich auf der Sonnenseite verbracht. Jeden Winter waren sie und ihr Mann vor der Kälte nach Thailand geflüchtet. Irmi hatte sich in dieser Zeit immer um ihre Villa gekümmert. Nach dem Tod von Günther hatten sie noch häufiger als zuvor bei einer Tasse Kaffee beisammengesessen und Irmi träumte sich durch Ernas Reisegeschichten in die Ferne – auf Kontinente, die sie sich selbst nie würde leisten können.

Während sie über all das nachdachte, war sie zur Villa hinübergegangen, um nach dem Rechten zu sehen. Ernas Tochter war sehr froh über Irmis Angebot gewesen, weiterhin in der Villa nach dem Rechten zu sehen. Zumindest solange bis geklärt war, was damit passieren würde. Nun stand sie, den Eingangsschlüssel noch in der Hand, im geräumigen, hell gekachelten Flur und starrte auf die Post zu ihren Füßen. Erna hatte regelmäßig einen Witz darüber gemacht, dass es nur einen Briefkastenschlitz in der Haustür gab. „So komme ich wenigsten zu einem Minimum an Gymnastik, wenn ich mich zu den Briefen hinunterbeugen muss“, hatte sie gesagt.

Irmi fiel sofort ein buntes Couvert auf, das mit dem Absender eines Reisebüros versehen war. Sie wog den Brief eine Weile unschlüssig in der Hand und ging dann in die Küche, um ein Messer zu holen. Als sie den Umschlag geöffnet hatte, fielen ihr Reisetickets in die Hände. Einmal Koh Phayam und zurück. Der Hinflug nach Bangkok war auf übermorgen datiert. Sie zögerte kurz, dann erhellte sich ihr Gesicht mit einem Lächeln. Gezielten Schrittes ging sie ins Wohnzimmer, öffnete den Schrank und holte Ernas Reisepass aus der Schublade. Sie hatten die vielen bunten Visa darin gemeinsam unzählige Male bestaunt.

An der Haustür drehte sie sich noch einmal um, sagte: „Danke Erna, ich gehe dann mal packen!“ und freute sich auf ein Abenteuer, das sie endlich aus ihrem grauen Alltag befreien würde.

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Diese Kurzgeschichte ist Teil des @autorengezumpel, einem Zusammenschluss von AutorInnen, die unter einem Dachthema regelmäßig Geschichten posten. Die aktuelle Serie heißt #wintergezumpel.

Fotocredits: Christine Zimmermann von afrikasia.de

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