In diesem Reisebericht erzählt Heidi Metzmeier von ihrer Winterreise 2023/24 auf die griechische Insel Kreta

Winterflucht nach Kreta

Heidi Metzmeier Icon

Dieser Reisebericht ist der zweite Teil unserer Winterreise 2023/24. Falls du den ersten Teil verpasst hast, kannst du ihn hier nachlesen.

Triggerwarnung: Wenn du für die Themen Tod und Trauer sensibel bist, dann empfehle ich dir, das Kapitel mit der Überschrift „Brunos letzte Reise“ zu überspringen.

Am Seuchenstrand

Wir waren einen Tag vor Silvester mit einer der großen Fähren von Piräus, bei Athen, nach Kreta übergesetzt und ohne große Umschweife nach Paleochora im Südwesten der Insel gefahren, da wir uns dort, von unserem letzten Besuch vor vier Jahren, gut auskennen. Das war im Nachhinein besehen die beste Entscheidung, denn schon am Silvestertag schaut mich Peter aus fiebrigen Augen an und konstatiert, dass er sich hinlegen muss. Er wird für die nächsten zwei Tage nicht mehr aufstehen.

Ich strotze seit Monaten vor körperlicher Gesundheit und Fitness, dass ich mir tatsächlich einbilde, selbst auf engstem Raum durch die Situation zu kommen, ohne mich anzustecken. Der Vorsatz hält genau 48 Stunden, dann liege ich ebenfalls flach. Einer im Bett, der andere auf der Couch, Bruno versteht die Welt nicht mehr, versucht wahlweise den einen oder die andere zum Spielen oder Spazierengehen zu motivieren, aber das Vergnügen hält immer nur für kurze Zeit.

Nach drei Tagen suche ich die örtliche Pneumologin auf. Ihre Praxis ist geräumig, wobei drei Viertel vom Wartebereich eingenommen werden, der sich zu beiden Seiten des Behandlungsraums befindet. Ein Konzept, das ich nicht durchschaue. Ist aber auch egal, weil ich auch ohne Termin gleich drankomme. Marias Sprechzimmer passt in einen Schuhkarton: Ein Regal mit Medikamenten, eine Liege, ein Stuhl und ein Tisch. Letzterer bordet über von Notizzetteln und aufgeschlagenen Zeitschriften. Obenauf balanciert der Rechner, wobei dieser immer gefährlich schwankt und herunterzufallen droht.

Sie hört mich ab, stellt eine Reihe von Fragen und schreibt mir schließlich eine ganze Latte von Medikamenten auf, damit ich gesund werde und das Ganze nicht zur Lungenentzündung ausartet. Sie notiert alles auf einem Zettel, mit farblichen Markierungen, damit ich genau weiß, wann ich was einzunehmen habe. Sie nimmt sich unglaublich viel Zeit und ist super nett, empathisch und hilfsbereit. Wie sie bei all dem Husten und Röcheln um sie herum gesund bleibt, ist mir ein Rätsel.

Peter, der anfänglich dachte, dass er ohne Arztbesuch auskommt, stattet Maria am nächsten Tag ebenfalls einen Besuch ab. Nun sind wir nicht mehr allein im Wartezimmer. Nachdem wir aufgerufen wurden, gibt es Stress mit einer Dame die im Wartezimmer eine Szene macht. Die Ärztin stellt sie durch die papierdünnen Wände zur Rede und rollt mit den Augen. Offenbar ist heute die Drama Queen unter ihren Patientinnen.
Maria hört Peter ab, macht einen Grippe- und Corona-Test. Als sie versucht die Rechnung auszudrucken streikt der Drucker. Sie verliert nur für einen kurzen Moment die Geduld, dann hat sie sich wieder im Griff. Ich sage ihr, dass wir ihren Einsatz sehr zu schätzen wissen. Ärzte auf Kreta haben andere Besuchszeiten, als wir es aus Deutschland gewohnt sind. Niedergelassene öffnen ihre Praxis am Vormittag, ab etwa 13 Uhr ist Pause und am Abend ist Sprechzeit von ca. 17 Uhr bis 21 Uhr. Das geht aber auch am Samstag und den halben Sonntag so. Wie sich die Ärzte hier von ihrem Stress erholen, habe ich keine Ahnung.

Wir machen derweil aus der Misere das Beste, fahren immer wieder zu unserem abgelegenen Lieblingsstrand Sandy Beach, an dem wir weitestgehend allein sind, kurze Spaziergänge machen können oder am Meer sitzen und mit Bruno Stöckchen spielen.

Nach etwa zehn Tagen fühlen wir uns fit genug, um die Rundreise über die Insel endlich anzutreten. Unser erstes Ziel entpuppt sich dabei als herbe Enttäuschung. In Elafonisi, dem Strand mit dem rosafarbenen Sand, haben sie inzwischen eine Einfahrtssperre errichtet und einen überdimensional großen Parkplatz gebaut. Seine Ausmaße lassen erahnen, wie viele Besucher dieser Strand im Sommer verkraften muss. Das Argument ist übrigens Naturschutz, was wir grundsätzlich begrüßen, würde der Strand nicht strotzen vor Plastikmüll. Wenn man es hier nicht einmal außerhalb der Saison fertigbringt dieses wunderschöne Stück Natur von seinem Müll zu befreien, wie soll das dann im Sommer funktionieren? Die Leute nehmen ihren Abfall ja nicht wieder mit zurück zu ihrem Auto. Das Thema Müll ist und bleibt eine ungelöste Aufgabe auf dieser Insel, die so schön ist, dass es schmerzt.

Da wir hier über Nacht nicht bleiben wollen, fahren wir weiter in Richtung Nordwesten. Dort gibt es auf dem „zweiten Horn des Nashorns von Kreta“ eine Bucht, Kolimvari, die so abgelegen ist, dass man sich fühlt wie Robinson Crusoe und Freitag. Die Anfahrt ist malerisch, mit weißen Felsen, die wie Zähne aussehen, knorrigen Olivenbäumen, Sträuchern exotisch riechender Kräuter und dazwischen sattgrünen Wiesen. Man fährt etwa zwei Stunden auf Piste nur im Schritttempo, was aber auch gut ist, da hier immer wieder Ziegen und Schafe in den Weg springen. Sie haben gerade Babies geboren, was sehr knuffig aussieht. Bruno möchte sie allerdings gern fangen und piepst entsprechend aufgeregt in unsere Ohren.
Bei der Anfahrt hat es heftig geregnet, doch als wir in der Bucht mit dem türkisblauen Wasser ankommen reißt der Himmel auf und die Sonne kommt raus. Wir setzen uns auf unsere Campingstühle in den Sand und verputzen eine große Portion Pasta. Danach machen wir einen kleinen Spaziergang zur Kapelle, in der es neben Heiligenbildchen und allerhand Räucherware auch ein Gästebuch gibt. Wir tragen uns dort ein mit guten Wünschen für das Jahr und Dankbarkeit über diesen magischen Ort.
Peter und Bruno machen anschließend noch einen Ausflug zu den Tempelruinen auf dem Hügel. Das Foto das dabei entsteht ist fantastisch, weil es zeigt, wie das Süßwasser des Flusses, der sich hier – allerdings nur nach Regenfällen – durch rote Erde arbeitet, in einem Strom aus Farbe ins blaue Meer fließt.

Brunos letzte Reise

Wir sind in einer Tierarztpraxis in der größeren Stadt Rethymno in Norden der Insel. Es ist der zweite Besuch innerhalb weniger Tage.

Bei der ersten Untersuchung war die Diagnose unklar. Die Röntgenaufnahme zeigte Luft in Magen und Darm, aber nicht genug, um eine Magendrehung zu bestätigen. Um das Ergebnis der Blutuntersuchung abzuwarten hatten wir Zeit im nahegelegenen Park verbracht, der wunderschön ist mit großen, alten Bäumen, bunten Blumen und einem Café im Zentrum, einem achteckigen, offener Bau mit viel Glas, der passender Weite Café du Jardin heißt. Bruno saß entspannt in der Sonne, wir nippten an unserem Cappuccino. Im Hintergrund lief ein Song, der mir bekannt vorkam. Ich brauchte eine ganze Weile um zuzuordnen was ich hörte. Es war die griechische Version von Herbert Grönemeyers „Mensch“. Du kannst diese Coverversion hier anhören.
Die Blutwerte waren soweit in Ordnung. Wir wurden mit Schonkost entlassen und dem Hinweis uns sofort zu melden, wenn Brunos Zustand sich verschlechtern sollte

Fünf Tage später. Es ist bereits nach 21 Uhr. Peter hat zum zweiten Mal in dieser Woche einen fahrtechnischen Höllenritt quer über die Insel hinter sich, nachdem es Bruno wieder schlechter geht. Alexis, der Tierarzt in Rethymno, hat sich in den letzten Minuten durch sämtliche Praxen der Umgebung telefoniert, um einen speziellen Tubus aufzutreiben, leider ohne Erfolg. Auch der Anruf in der Tierklinik in Heraklion bringt schlechte Nachrichten. Sie werden Bruno nicht operieren. Bruno hat tapfer nochmal eine Röntgenaufnahme mit Kontrastmittel über sich ergehen lassen, die schlussendlich zur Diagnose führte, die Peter von Anfang an vermutete: Magendrehung, in diesem Fall atypisch. Peter fällt die Entscheidung, zu der ich nicht in der Lage bin. Bruno liegt jetzt auf der Behandlungsliege. Der Arzt hat ihm ein Beruhigungsmittel gegeben. Das verschafft ihm Erleichterung und gibt uns die Zeit, die wir brauchen, um uns von unserem Reisebuddy, unserem Familienmitglied, dem Lieblingshund, der uns über zehn Jahre so ein treuer Freund war, zu verabschieden.
Ich halte ihn fest und flüstere ihm beruhigende Worte ins Ohr, sage ihm, dass der Schmerz gleich ein Ende haben wird und dass er dann über die Regenbogenbrücke zu den anderen Seelen gehen wird, die schon auf ihn warten. Ich erzähle ihm, dass ich seine Seele suchen werde, wenn ich auch einmal in diesem Raum ankomme, in dem alles mit Licht und Liebe erfüllt ist.
Als wir ihm ein Zeichen geben, injiziert der Doktor zwei Flüssigkeiten, eine weiße und eine rote. Nach wenigen Minuten sagt er leise: „Er ist gegangen.“
Aus meiner Kehle kommt ein Geräusch, dass ich gar nicht als meines identifizieren kann. Ich weine hemmungslos um dieses Wesen, dem ich versprochen habe es zu beschützen. Ich habe das Gefühl kläglich versagt zu haben.
Der Arzt fragt uns, was wir mit dem Leichnam machen wollen. Wir schauen uns ratlos an. So bietet er uns an, Bruno auf dem Grundstück seiner Eltern in Spili (wie treffend kann ein Ort für einen Hund eigentlich sein?) beizusetzen, neben den drei Hunden, die er schon gehen lassen musste. Wir sind gerührt von dieser Geste, werfen noch einen letzten Blick zurück und gehen dann alleine zu unserem Geländewagen zurück. Wir fahren zur Festung, wo wir über Nacht bleiben können. Natürlich machen wir kein Auge zu. Ich weine die ganze Zeit. Erst als ich am Morgen all mein Adrenalin verschossen habe, erlaubt sich Peter seine Trauer zuzulassen. Neben Trost braucht er vor allem Ruhe. Die letzten Tage waren körperlich und seelisch sehr anstrengend.

Am Nachmittag wechseln wir uns mit dem Fahren ab, ziehen uns an einen Strandabschnitt zurück, an dem wir weitgehend ungestört zwischen Dünen verschwinden können. Hier  versuchen wir das zu verarbeiten, was so unwirklich ist.
Besondere Stütze sind uns Nachrichten von Familie und Freunden zu Hause und die tatkräftige Hilfe von Astrid Brockmann hier auf Kreta. Der Kontakt zu ihr wurde von Einheimischen hergestellt, als sie erkannten, dass wir Hilfe von Menschen brauchen, die unsere Sprache sprechen. Astrid ist nach Kreta ausgewandert. Wir haben sie nie persönlich kennengelernt, wissen aber sehr zu schätzen, dass sie sich eine halbe Nacht lang durch sämtliche Arztpraxen der Insel telefoniert hat, um Hilfe für Bruno aufzutreiben. Danke du liebe Seele!

An diesem Strand nun fällt mir der Refrain der deutschen Version des Grönemeyer-Songs „Mensch“ wieder ein, der so treffend ist, dass es schmerzt:

Und der Mensch heißt Mensch
Weil er vergisst, weil er verdrängt
Und weil er schwärmt und glaubt
Sich anlehnt und vertraut
Und weil er lacht und weil er lebt
Du fehlst

Oh, es ist schon okay
Es tut gleichmäßig weh
Es ist Sonnenzeit
Ohne Plan, ohne Geleit
Der Mensch heißt Mensch
Weil er erinnert, weil er kämpft
Und weil er hofft und liebt
Weil er mitfühlt und vergibt
Und weil er lacht und weil er lebt
Du fehlst

Etwa eine Woche später sind wir bereit, Brunos Futter und Medikamente gehen zu lassen, die andere Hunde brauchen können. Wir suchen uns das Jutta Shelter in der Nähe von Lerapetra aus, weil Jutta eine Deutsche ist und die Medikamente, die wir abgeben wollen, wird zuordnen können. Als wir im Shelter ankommen lernen wir, dass Jutta vor vier Jahren einem Krebsleiden erlegen ist. Aber: Das Tierheim wird in ihrem Sinne weitergeführt. Etwa 200 Hunde und 20 Katzen haben hier ein zu Hause gefunden. Ioannis und seine Helfer kümmern sich mit einer Leidenschaft um die Tiere, die ich noch selten gesehen habe. Sie erweitern die Unterkunft stetig, sorgen dafür, dass die Tiere regelmäßig in ärztliche Behandlung kommen und dass immer ausreichend Futter da ist.

Hunde die zu ihnen kommen sind beispielsweise Haustiere, die im Sommer von Urlaubern zurückgelassen wurden. (Ich frage mich, wie man das übers Herz bringt.) Andere wurden vor der Tötung gerettet, weil das kretische Herrchen mit dem Hund nicht zurechtkommt. Oder es sind Streuner die krank oder angefahren aufgelesen wurden.

Die Haltung und Pflege von so vielen Tieren kostet Geld. Etwa 20 Euro brauchen sie pro Tier im Monat, allein für die Verpflegung. Das Heim ist auf Spenden angewiesen. Wer helfen möchte, erfährt alles Wichtige auf der Internetseite der Einrichtung. Ich würde mich freuen, wenn sich der eine oder andere Leser dieser Zeilen dazu entschließen könnte. (Nein Simone, du nicht! Du hast in dieser Beziehung schon genug Verpflichtungen übernommen.)
Man kann natürlich auch Hunde oder Katzen aus dem Shelter adoptieren. Wir sind allerdings emotional noch nicht so weit…

Wir diskutieren, wie es für uns jetzt weitergehen kann. Ich möchte in einem ersten Reflex sofort von der Insel flüchten, weil ich fertig bin mir ihr. Aber das ist natürlich Unsinn, denn zu Hause würde uns ja nun wirklich alles an Bruno erinnern. Also bleiben wir und erleben in den nächsten Wochen die Insel auf ganz einzigartige Weise.

Von Buchten und Schluchten

Wir lieben die kleinen, abgelegenen Buchten auf der Südseite der Insel. Und es macht Spaß sich einzubilden, man sei der Einzige, der diesen heilen Flecken Erde entdeckt hat. Heute sind wir unterwegs nach Prasonissi Beach. Fahrtechnisch nach Karte keine große Herausforderung: Auf Teerstraße bis zum letzten Stück, dann ca. 400 Meter Piste steil zur Küste. Wir sind gerade am Abzweig und Peter will schon in die Piste abbiegen, als uns beiden auffällt, dass jemand mit roter Farbe etwas auf die Straße geschrieben hat. Ich steige aus und lese „STOP!!! The road is fucked up!!!“, also die Straße ist besch…eiden. Ein Blick hinunter genügt, um zu ermessen, dass der wohlmeinende Ratgeber Recht hat. Dazu muss man wissen, dass große Teile der Insel aus sehr brüchigem Kalkstein bestehen. Hier kommt es immer wieder zu Steinschlag und Erdrutschen, bei denen Teile der Straße ausgespült werden oder wegbrechen. Außerdem sollen auch Erdbeben vorkommen, wobei wir noch keines erlebt haben. Wir bedanken uns für den Hinweis und ziehen weiter.

In Agios Pavlos sind wir scheinbar auf dem Mond angekommen. Wir fahren abseits aller Pisten hoch über Ammolofi Beach und suchen uns ein windgeschütztes Fleckchen. Hier sind die Felsen in Falten gelegt und jede Falte hat eine andere Farbe. Bizarr! Es gibt auch Steinbögen, durch die hindurch man auf das Meer sehen kann. Am Morgen kommt an dieser Stelle die aufgehende Sonne durch.

Das genaue Gegenteil von Mond erleben wir in Preveli. Hier wächst einer der zwei größten Palmwälder der Insel. Wer auf der Westseite auf dem Parkplatz rastet, steigt bis zur Bucht über 500 Felsstufen zum Meer hinab. Der Blick über die Weite bis zum Horizont ist gigantisch. Das Wasser glitzert silbrig in der Sonne.
Wir entscheiden uns für einen Spaziergang durch den palmenbewachsenen Canyon und ich fühle mich an Oasen in Nordafrika erinnert, nur ohne Kamele: Kleinere und größere Palmen säumen einen Fluss, auf dessen tiefgrüner Oberfläche Enten schwimmen. Die Felswände rechts und links sind durchsetzt mit Höhlen, die das Wasser in Jahrtausenden geformt hat. Hier „wohnen“ im Sommer dem Vernehmen nach Besucher, teils monatelang. Eines ihrer Lagerfeuer ist eskaliert und hat einen Brand ausgelöst. Die Folgen sieht man bis heute, obwohl das Feuer ein paar Jahre zurückliegt.

Moni Koudouma ist ein Kloster, zu dem die Anfahrt zunächst durch ein Bachbett und dann über Wellblechpiste führt. Man muss die Bergkette überwinden, welche die Dörfer vom Meer trennt. Wir arbeiten uns bis zur Nebelgrenze nach oben. Als wir über den Pass hinweg sind, ist plötzlich Sonnenschein. Auch die Landschaft verändert sich. Wir fahren durch weißes Gestein, das von knorrigen Nadelbäumen bewachsen ist, deren Wuchsrichtung vom Wind geformt wurde. Hier laufen munter Ziegen mit ihren Neugeborenen umher. Sie sind von der Farbe der Landschaft kaum zu unterscheiden. Viele sitzen auf der Piste, springen aber – mit viel Gebimmel – auf, wenn der Land Rover sich ihnen nähert. Als wir auf den Parkplatz des Klosters einfahren freuen wir uns, denn hier steht der Steyer von Bodo und Regina. Wir kennen sie von unserer Reise durch Georgien. Für den nächsten Tag verabreden wir uns zu einer gemeinsamen Wanderung. Diese führt uns zur Felsenkirche von Agios Antonios, ein wahrhaft magischer Ort. Die Höhe öffnet sich weit zum Meer hin (siehe Titelbild des Blogbeitrags). In den Stein wurde eine kleine, weiße Kirche gebaut, die mit reichlich Heiligenbildchen verziert ist. Dahinter befinden sich zahlreiche Quellen mit Weihwasser. Im offenen Teil der Höhle gibt es Sitzgelegenheiten. Auf dem Holztisch haben sich die „Heraklion Hikers Anti Nazi“ verewigt. Darunter sind noch die Reste der Party von gestern zu sehen, denn man feierte den Namenstag des Kirchenpatrons. Wir sind leider einen Tag zu spät dran.

Ein Joch weiter in der gleichen Bergkette kann man von Koumasa aus einen Canyon entlang über Piste nach Tripiti Beach fahren. Hier ist der letzte Kilometer am interessantesten, weil man – vom der Höhe kommend – erst gar nicht erkennen kann, ob es unten einen Weg gibt. Erst kurz vor dem Einschnitt sehen wir, dass eine schmale Piste in Schlangenlinie zwischen den Felsen hindurchführt. Am anderen Ende erwartet uns ein kleines Gehöft mit Ziegen, Enten, Hühnern und sogar Pfauen sowie eine weitere Felsenkirche.
Am Strand stehen etliche Wohnwagen, die im Sommer von Hippies bezogen werden, die monatelang hier verweilen. Den Rest des Jahres ist der Strand verwaist. Die Wagen sind teils mit bunten Blumen bemalt. Manche haben einen Vorbau mit Sonnenschutz und Bestuhlung. Bei anderen ist eine gemauerte Grillstelle angelegt.
An diesem Abend geht der Vollmond über den Bergen auf. Das ist besonders spektakulär, weil die Wolken, die es gerade ebenso über die Bergkuppe geschafft haben, von der gleichzeitig untergehenden Sonne in ein sattes Orange getaucht werden. Die Natur ist die größte Künstlerin!

Laut unseres Kartenmaterials ist es möglich einer Straße am Meer entlang zu folgen bis zum populären Ort Lentas. Allerdings werden wir am anderen Morgen am ersten Hügel von einem Griechen im Geländewagen abgefangen, der uns erklärt, unten ginge es nicht weiter. Da er aber selbst der gleichen Straße weiter folgt, zucken wir mit den Schultern und fahren hinterher. Gut so, denn sonst hätten wir die kleine Schlucht, die sich hier in eine der schönsten Buchten weitet, glatt verpasst. Am Strand sind große, weiße Steine, die der Bucht etwas erhabenes verleihen. Aber auch hier waren schon andere Deutsche vor uns. Woher ich das weiß? Weil sie als Mandala den Lebensbaum mit Steinen in den Sand gelegt und das Wort „Danke“ daruntergeschrieben haben. Wir treffen auf Kletterer aus Alzey, Lehrer im Sabbatical, mit denen wir uns auf Anhieb gut verstehen.

Also wir später der Straße mit dem Landy weiter folgen, kommt zunächst ein winziger Hafen und dann treffen wir wieder auf den Griechen, der Peter ungehalten fragt, ob wir verrückt seien. Er habe uns doch oben schon erklärt, hier ginge es nicht weiter. Peter ist kurz versucht zu antworten: „Natürlich bin ich verrückt! Ich probiere einfach alles gern selbst aus.“ Aber wir können von dieser Position sehen, dass die Straße tatsächlich neu betoniert wurde und daher gesperrt ist. Also machen wir artig kehrt, um uns nicht – wie andere – mit unserem Reifenprofil in der neuen Straße zu verewigen.

Auf dem weiteren Weg in Richtung Westen sehen wir ein echtes Stück griechischer Realität. Die Anzahl der Gewächshäuser hat hier in den letzten vier Jahren massiv zugenommen. Sie entstehen überall dort, wo man ein Stück Natur, das der Sonne zugewandt ist, in eine ebene Fläche verwandeln kann, notfalls durch massive Bewegung von Erde. Ringsum liegt Plastikmüll, den der nächste Regen mit ins Meer nimmt, wenn ihn nicht vorher die Ziegen fressen. Die ausgedienten Gewächshäuser bleiben einfach stehen, das Plastik löst sich langsam auf, oder wird vom Wind über die Felder geweht. Das verbleibende Gestänge steht wie eine Anklage in der Natur, neben ausrangierten Fahrzeugen, Plastikkanistern und allem, was man sich sonst entledigen muss. Die Insel hat definitiv ein Müllproblem.
Einkommensquelle Nummer Zwei ist der Tourismus. Alle wollen daran partizipieren, soweit verständlich. Nur, dass so manchem vor Vollendung seiner „Appartements mit Meerblick“ die finanziellen Mittel ausgehen. Das Ende vom Lied sind unvollendete Rohbauten, die als Lost Places, mit Krönchen aus Eisenteilen, entlang der Küste stehen.

Eine der schönsten Schluchten, die sich an ihrem Ende in eine türkisblaue Bucht weitet, ist Agofarago, am äußersten südwestlichen Zipfel der Insel Kreta. Auf der 45-minütigen Tour durch gelbe bis weiße Felsen, an Olivenbäumen und – wie könnte es anders sein – an einer Kirche vorbei – werden wir von Ziegen begleitet. Sie sind durch das offene Gatter aus ihrem Areal geflüchtet. Eine Tatsache, über die ihr Besitzer am Abend einen Tobsuchtsanfall bekommen wird, weil er denkt, Touristen hätten das Gatter offengelassen. Tatsächlich waren es Einheimische.
Wir laufen hier durch das ausgetrocknete Flussbett meerwärts und bestaunen die überdimensional großen Höhlen in den Felswänden. Peter sagt dazu: „die Natur baut die schönsten Kathedralen“. Die größte von ihnen an diesem Ort hat sogar einen Namen: Ghoumensospilio.
Als wir von unserem Ausflug zurückkehren wird Peter ungehalten. Wir reisen schon seit Lefkada mit einer Basilikumpflanze, die er hütet wie seinen Augapfel. Sie soll unseren heimischen Kräutergarten bereichern. Sie steht, wenn wir unseren Stellplatz für die Nacht gefunden haben, auf der Motorhaube, damit sie Sonne abbekommt. Leider waren die Ziegen clever genug, sich am Land Rover hochzuarbeiten. Nun ist die Pflanze nur noch halb so imposant.
Auf dem Parkplatz zur Schlucht finden wir alles vor, was wir am Abend für eine Runde Würstchen grillen benötigen. Wir sind gerade fertig mit dem Essen, es ist inzwischen stockfinster, als ein Auto sich nähert. Ein Mann steigt aus und fragt uns, ob wir Hilferufe gehört hätten. Sie seien von der Küstenwache und alarmiert worden, wüssten aber nicht genau, an welcher Bucht sie suchen müssen. Falls da wirklich jemand Hilfe brauchte, hoffen wir, dass die Jungs noch rechtzeitig angekommen sind.
Von hier aus kann man übrigens eine Wanderung zur Höhlenkirche von Panagia machen. Der Weg führt malerisch oberhalb der Bucht von Martsalos vorbei. Sehr lohnend!

Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich dich noch zu zwei Schluchten einladen, die wir spontan in unser Programm aufgenommen haben, die im Südosten der Insel liegen: Zagros und Agia Irini. Beide Schluchten bestechen durch ihre imposante Höhe und Länge. Was uns darüber hinaus beeindruckt hat, ist die Vegetation. Im „Tal der Toten“ bei Zagros, stehen riesige, schattenspendende Bäume, Feigen, Pappeln und dazu Oleanderbüsche von beeindruckender Größe. Die Schlucht heißt übrigens so, weil die Minoer, die hier vor 9000 Jahren lebten, ihre Toten in den Felshöhlen bestatteten. Man kann die Schlucht durchwandern und auf dem Rückweg der alten Autostraße folgen, die direkt am Rand der Schlucht entlangführt und eine gigantische Vogelperspektive erlaubt.
Bei Agia Irini klettert man im (derzeit trockenen) Flussbett über Stock und Stein, zwischen Felsen hindurch, die sich von der Felswand gelöst haben. Hier bestaunen wir den herabhängenden sattgrünen Pflanzenbewuchs auf den roten Felswänden, die einmal mehr durchsetzt sind mit Felsenhöhlen.

Strand- und Alltagsleben

Im größten Ort an der Südküste, Lerapetra, gibt es einen von zwei Campingplätzen auf der Insel, der auch im Winter geöffnet hat und über eine Waschmaschine verfügt. Die erste heiße Dusche seit Weihnachten ist nach einem Monat eine wahre Freude. Wir brauchen eine Stunde, um unsere Berge von Wäsche aufzuhängen. Zur Belohnung fahren wir ins Städtchen zum Essen.

Ich möchte an dieser Stelle mit einem Mythos (so heißt übrigens auch eine sehr leckere Biersorte) über Griechenland aufräumen: Man isst bei Weitem nicht nur Gyros oder überhaupt irgendein Fleischgericht. Hier gibt es die tollsten Gemüsevarianten, allem voran eine Mischung aus verschiedenen Grünsorten, die „Horta“ (so spricht man es) heißt. Auch die gefüllten Tomaten sind ein Gedicht und rein vegetarisch. Eine Erwartung die jeder hat, der in Deutschland schon einmal griechisch essen war, wird übrigens enttäuscht: Es gibt mit der Rechnung keinen Ouzo. Wenn überhaupt Raki, aber auch den nicht immer.

Hier ein kleiner Exkurs für alle, die sich für meine schriftstellerischen Aktivitäten interessieren: Mein aktuelles Manuskript, dem ich den Arbeitstitel #4frauenaufkreta gegeben habe, spiel zur Hälfte auf der Insel, in Matala und Umgebung, um genau zu sein. Damit die Beschreibungen realitätsgetreu werden, sind wir zum Location-Check hier. Ich mache unzählige Fotos von Unterkünften, Restaurants, Veranstaltern und natürlich auch von der Bucht mit den Felsengräbern aus Römerzeit, die zwischenzeitlich den Hippies als Unterkunft dienten, bis die Regierung dem einen Riegel vorgeschoben hat. Zur Geschichte des Ortes werde ich an dieser Stelle nicht viel mehr sagen, das hebe ich mir für den Roman auf…Du darfst also gespannt sein.

Der Strandabschnitt nebenan, Komos Beach, ist – ebenso wie Matala und Tripiti – Hippie-Land. Um mich in die Atmosphäre einzufühlen, aber auch, weil wir eine Pause von der Reise brauchen, bleiben wir an diesem Flecken eine ganze Woche. Wir sind fasziniert von der Szene die sich uns vor dem Fenster bietet: In nördlicher Richtung sehen wir auf die schneebedeckten Berge im Zentrum der Insel, nach Süden hin erstreckt sich das Libysche Meer. Hier treffen wir auch Freia wieder, Tänzerin und Schreibende, eine freie Seele, der wir vor vier Jahren zum ersten Mal begegnet sind. Es ist immer wieder interessant wie es sich verhält, wenn man Menschen nach langer Zeit wiedersieht, mit denen man sich blind versteht. Wir reden, als wären wir gestern erst auseinander gegangen. Sie soll nicht die einzige bleiben, der wir hier erneut begegnen. Wer sich in Kreta im Winter verliebt hat, kommt offenbar immer wieder.

Für uns wird es allerdings langsam Zeit Abschied zu nehmen. Wir kehren dorthin zurück, wo wir die Kreta-Reise begonnen haben, nach Paleochora, um uns neu zu sortieren. Die weitere Reiseplanung ist völlig offen. Du kannst also gespannt sein, wohin wir dich im dritten Teil der Winterflucht entführen.

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