Ich gebe zu, ich bin Fussballfan durch und durch. Es begann mit fünfzehn Jahren, als ich unsterblich in den Nationaltorhüter Toni Schumacher verknallt war. Später habe ich Mainz 05 die Daumen gedrückt und zuletzt dem SC Freiburg. Und wenn „die Mannschaft“ spielt, bin ich mit Herz und Seele dabei, sehr zum Leidwesen meines Mannes und unseres Hundes, denn ich kann als Co-Kommentatorin auf dem Sofa ziemlich laut (bisweilen unflätig) werden.
Nun steht die neue Geschichte für das Autorengezumpel zur Jahreszeit Sommer an und da mein Beitrag mit dem Tag des Europameisterschaftsfinales 2024 zusammenfällt, liegt die Themenwahl praktisch auf der Hand. Bundestrainer Julian Nagelsmann hat mir dafür auf der Pressekonferenz nach den tragischen Ausscheiden im Viertelfinale die perfekte Vorlage geliefert.
Höre ich ein Echo von weiteren Fussballfans da draußen?
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„Komm wir spielen EM24!!!“, schlägt Erik seinem gleichaltrigen Freund Nils begeistert vor.
„Ok, dann bin ich Manuel Neuer“, beeilt dieser sich zu sagen.
„Na gut, dann bin ich Niklas Füllkrug.“
„Das geht nicht! Du musst von einem anderen Land sein, die Deutschen spielen doch nicht gegen sich selbst.“ Nils tippt sich dabei neunmalklug gegen die Stirn.
Erik seufzt. So hatte er sich das nicht vorgestellt, aber das war sein Freund. Hatte selbst keine Ideen, war aber gut darin, seine zu sabotieren.
„Dann bin ich eben Christiano Ronaldo.“
„Hätte ich mir denken können.“
Die beiden Jungs markieren im Garten von Eriks Eltern auf dem Rasen mithilfe ihrer Jacken die Breite eines Fußballtores. Nils postiert sich dazwischen und rudert mit den Armen, so wie es alle Torwarte machen, wenn sie einen Elfmeterschuss erwarten.
Erik legt sich den Fußball, den er eigens zur Europameisterschaft von seinem Opa bekommen hat, zurecht. Dann tritt er zurück und stellt sich breitbeinig auf, wie ein Westernheld. Er kann die Pose von Ronaldo perfekt imitieren. Nun nimmt er Anlauf, verzögert den Schuss jedoch für eine Sekunde, so dass Nils bereits zum Sprung ansetzt und in Richtung virtuellem Pfosten unterwegs ist. Erik wählt die andere Ecke und versenkt den Ball sauber im Rhododendron dahinter.
„Eins zu Null!“, ruft er begeistert aus.
„Das war unfair, du hast verzögert“, echauffiert sich sein Freund.
„So sind aber die Regeln, ich darf das.“ Erik kriecht aus dem Rhododendron hervor, unter dem er den Ball herausgefischt hat
„Dann will ich jetzt tauschen“, ruft sein Freund und stampft dabei mit dem Fuß auf.
„Kein Ding. Dann bin ich jetzt eben Manuel Neuer.“ Erik zuckt gespielt gleichgültig mit den Schultern.
„Und ich bin Niklas Füllkrug.“
„Sehr witzig…“
„Kleiner Scherz, ich bin natürlich Harry Kane.“
Erik baut sich zwischen den Torpfosten auf und zappelt hin und her, um seinen Freund nervös zu machen. Dieser sieht angestrengt zum Ball, fixiert ihn dann mit Blicken und nimmt Anlauf. Erik wählt die rechte Ecke, weil sein Freund diese immer anpeilt – und bekommt den Ball tatsächlich zu fassen.
„Zwei zu Null!!!“, jubelt er.
„Du hast die Grundlinie vorzeitig verlassen, das gildet nicht“, brüllte sein Freund ihn an.
„Das ist nicht wahr, du kannst nur einfach nicht verlieren.“
„Du bist ein ECHT BLÖDER FREUND“, schreit Nils und wirft sich auf ihn mit Gebrüll. Die beiden Jungs raufen auf dem Rasen, bis ihre T-Shirts grün und die Nasen blau sind.
Plötzlich ruft jemand von der Terassentür: „Aufhören, sofort aufhören! Kann man euch keine zehn Minuten allein lassen?“ Eriks Mutter erreicht sie mit wenigen Schritten, beugt sich über sie und pflückt sie auseinander. „Sagt mal, geht´s noch?“
Bevor sie jedoch eine Antwort bekommt, eilt die Mutter von Nils vom Nachbargrundstück über den Rasen und bellt: „Es ist doch immer das Gleiche. Wann immer ich meinen Nils zu euch zum Spielen lasse, kommt er mit Blessuren nach Hause. Euer Erik ist so unerzogen aggressiv!“
„Na hören sie mal, vielleicht hat Nils ja angefangen?“
Noch ehe die beiden Jungs eine Chance haben, zur Sache etwas zu sagen, stürzt sich eine der Mütter auf die andere. Sie wälzen sich auf dem Rasen und ziehen sich an den Haaren. Als Eriks Mutter das Ohr von Nils Mutter erwischt beißt sie zu. Diese schreit schmerzerfüllt auf und hebt zu einem Fausthieb an. Bevor dieser jedoch ein Ziel findet, werden die beiden Frauen von ihren Ehemännern auseinandergerissen.
„Was soll das denn bitte werden? Kann man nicht mal in Ruhe Fußball gucken?“, fragt der Vater von Nils in die Runde.
Zwei kleine Menschen sehen betreten zu Boden, zwei große Menschen funkeln sich wütend an und verschränken die Arme vor der Brust.
„Die da hat angefangen!“, zischt Eriks Mutter und zeigt auf die Mutter von Nils.
„Schluss jetzt, wir gehen alle ins Haus!“ Eriks Vater hat genug gehört. „Was sollen denn die Nachbarn denken?“
Eriks Vater ist Schiedsrichter und pfeift am Wochenende Spiele von Lokalvereinen. Er weiß, wie wichtig es ist, eine Versöhnung anzustreben, bevor die Gräben sich vertieften. Die Jungs folgen mit hängenden Schultern. Nils Mutter kommt nur widerwillig mit. Ihr Mann schubst sie vor sich her.
Als alle im Wohnzimmer von Eriks Familie zur Aussprache versammelt sind, läuft der Fernseher. Die Sportschau zeigt noch einmal die Pressekonferenz mit Bundestrainer Julian Nagelsmann nach dem Ausscheiden der Deutschen Nationalmannschaft im Viertelfinale der Sommer-EM 2024:
„Es ist wichtig zu realisieren, was wir für Möglichkeiten haben, wenn wir alle zusammenhalten und nicht alles extrem Schwarz malen, dem Nachbarn nichts gönnen und von Neid zerfressen sind. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der Dinge alleine macht und dann automatisch schneller, besser weiterkommt, als wenn er sie mit jemandem zusammen macht. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.“
Eriks Vater muss gar nichts mehr sagen. Er schaut in vier betretene Gesichter. Zwei kleine Buben und zwei Frauen reichen sich die Hand.