Diese Kurzgeschichte ist Teil des Autorengezumpels, einer Gemeinschaft von AutorInnen, die gern Kurzgeschichten schreiben und auf Instagram veröffentlichen.

Die Tochter der Journalistin

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Diese Kurzgeschichte ist der zweite Teil einer Reihe, die ich für das Autorengezumpel geschrieben habe. Es geht darin um eine unbeugsame Journalistin und ihre bislang sehr systemangepasste Tochter, im faschistischen Deutschland, im Jahre 2035. Falls du den ersten Teil verpasst hast, kannst du ihn hier nachlesen. Die Geschichte ist aber auch unabhängig vom ersten Teil zu verstehen.

Dezember 2035

Sie war gerade mit ihrem PKW um die Ecke gebogen, als ihr der Kleinbus entgegenkam. Erst mass sie ihm keine Bedeutung zu, aber als ihr klar wurde, dass es sich dabei um einen Gefangenentransporter handelte, traf sie die Erkenntnis wie ein Blitz: Sie waren gekommen, um ihre Mutter zu holen, von deren Haus sie sich gerade entfernte.
Klara hatte ihre Mutter stets für ihre Haltung bewundert. Sie war als Journalistin auch dann noch unbeugsam gewesen, als es so etwas wie freie Presse in Deutschland schon nicht mehr gab.
Erst heute hatte sie allerdings versucht sie zu überreden einen Gang runter zu schalten, sich nicht so sehr zu exponieren. Schließlich war sie jetzt in Rente und hätte das alles hinter sich lassen können – auch ihr und den Enkeln zuliebe.
Ein Neuanfang in einem System, mit dem man sich arrangieren konnte, wenn man nicht auffiel.

Nur war ihre Mutter eben anders, kämpferischer. Sie hatte nicht vor, den Faschisten das Feld zu überlassen. Nun würde sie wahrscheinlich für weiß Gott wie lange hinter Gittern sitzen. Klara zitterte am ganzen Leib, als sie ihre Wohnung betrat. Die Kinder nahm sie wie durch einen Nebel wahr. „Patrick, wir müssen reden!“, sagte sie ohne Umschweife zu ihrem Mann, der auf der Couch saß und gelangweilt durch das Fernsehprogramm zappte. Dabei machte sie eine Bewegung mit dem Kopf in Richtung Küche. Er verstand den Wink und folgte ihr.
„Was ist denn los Schatz, du siehst ja leichenblass aus?“
„Sie haben Mama abgeholt.“
„Was? Ach du Sch…Weißt du, wo sie Gudrun hinbringen?“
„Nein, aber ich finde es heraus.“

Es gab ein paar Leute, denen sie Gefälligkeiten versprach, im Gegenzug für Informationen, andere standen noch in ihrer Schuld. Ein dichtes Netzwerk guter Kontakte war die neue Währung, in einem Land, in dem kaum noch etwas regulär funktionierte. Am Ende des Tages wusste sie, was man ihrer Mutter vorwarf und wo man sie hingebracht hatte. Es sah nicht gut aus.
„Was willst du jetzt machen?“, fragte Patrick, nachdem die Kinder zu Bett gegangen waren.
„Sie da rausholen.“
„Mit juristischen Mitteln? Das wird unsere Ersparnisse aufzehren und Jahre dauern. Du weißt, dass sie die Verfahren möglichst lange verschleppen.“
„Ja und genau deshalb ist das nicht die Lösung.
„Sondern?“, Patrick zog die Augenbrauen hoch. In seiner Stimme schwang Alarm.
„Ich werde mir etwas einfallen lassen. Es muss ja zur Abwechslung mal für etwas gut sein, dass ich in einer Behörde arbeite.“

*****

Ihre Zelle war nicht gerade die Suite des Adlon und sie musste sie sich mit drei anderen Frauen teilen, von denen eine schnarchte, eine im Schlaf schrie und die Dritte die ganze Nacht schlaflos betete. Immer noch besser als Einzelhaft, dachte Gudrun. Ihre Mitstreiter fehlten ihr. Sie traf sie nur zwei Mal die Woche für eine Stunde beim „Spaziergang“ im Hof, so wie jetzt. In den ersten Wochen hatten sie ein System der Kommunikation etabliert, mithilfe kleiner Zettel, die sie in den Ritzen der Hofmauern versteckten. Es war ihnen von Beginn an streng untersagt worden, miteinander zu sprechen. Offensichtlich
war die Angst sie könnten etwas aushecken so groß, dass keiner der Wärter ein Risiko einging.

„Winkler! Mitkommen!“, brüllte jetzt einer der Aufseher in ihre Richtung. Hastig zog sie ihre klammen Finger aus der Fuge und reinigte sie an ihrem Sweatshirt, um sich nicht zu verraten. Vereinzelte Schneeflocken fielen vom Himmel
und sammelten sich in ihren grauen Haaren. Sie fröstelte. Was wollen die bloß von mir? Hat uns etwa jemand verpfiffen?
Zögernd lief sie hinter dem Mann her, der sie zu einem der Besuchsräume führte. Seltsam, ich habe doch noch gar kein
Besuchsrecht…
Der Aufseher schob sie durch die Tür. Beinahe hätte sie aufgeschrien, als sie erkannte, wer bereits am Tisch saß. Sie schlug sich mit der Hand vor den Mund und hoffte, dass keiner der Offiziellen Notiz davon nahm.
„Frau Winkler, sie müssen keine Angst haben. Dies ist eine Routineuntersuchung“, sagte ihre Tochter. „Das Ministerium für Staatsgesundheit ist um jeden Bürger bemüht, auch die Abtrünnigen. In anderer Umgebung hätte sie schallend gelacht über die scheinbare Kaltschnäuzigkeit ihrer Tochter. Hier jedoch zog sie eine Schnute und lief langsam auf den Tisch zu.
Sie zog den Stuhl ihrer Tochter gegenüber zu sich heran, der auf der Betonplatte ein knarzendes Geräusch von sich gab, und ließ sich auf die Sitzfläche fallen.
„Es geht um die Überprüfung auf ansteckende Volkskrankheiten, wir können in dieser Umgebung das Risiko von Epidemien nicht eingehen. Bei Menschen wie ihnen weiß man ja nie.“
Gertrud zollte ihrer Tochter Respekt. Sie spielte ihre Rolle hervorragend. Nur war ihr nicht klar, worauf das Ganze hinauslief. „Bitte öffnen Sie den Mund.“
Sie tat, wie Klara ihr befohlen hatte. Derweil arbeitete ihr Hirn auf Hochtouren. Was hatte das zu bedeuten? Wie war es ihrer
Tochter gelungen zu ihr durchzudringen? Hatte wirklich niemand zwei und zwei zusammengezählt, nur weil sie nicht mehr ihren Mädchennamen trug?

Klara hantierte professionell mit ihren medizinischen Utensilien. Der Wärter wippte derweil ungeduldig mit dem Fuß.
„Sind wir hier fertig?“, wollte er schließlich wissen. „Kann ich die Gefangene auf ihr Zelle zurückbringen?“

*****

Jetzt würde es darauf ankommen, dass sie überzeugend klang, die Nerven behielt – dass ihre Mutter ihr vertraute und mitspielte.
„Moment! Hier stimmt etwas nicht!“, rief sie aus.
„Was meinen Sie?“, wollte der Wärter wissen.
„Der Test, er ist positiv. Ich muss die Patientin auf der Stelle isolieren.“
„Dann verlegen wir sie in eine Einzelzelle.“
„Nein, ich muss sie mitnehmen. Diese Ergebnisse erfordert weitere Untersuchungen, die ich nur in unserem Labor machen kann.“
„Ja, aber…“ Der Gefängnisangestellte war verunsichert, die Entscheidung in dieser Situation überschritt eindeutig seine Kompetenzen.
„Ich habe alle erforderlichen Befugnisse.“ Klara hielt ihm ein Dokument unter die Nase.
„Ich muss das prüfen lassen.“
„Tun Sie was Sie für richtig halten, aber ich werde die Patientin auf der Stelle hier herausschaffen. Wer weiß wieviele Insassen sie bereits angesteckt hat. Informieren sie ihre Vorgesetzten über die bevorstehende Quarantäne!“
Der Wärter schickte einen faschistischen Gruß in ihre Richtung und rannte davon.
„Hopp Mama, wir haben nur wenige Minuten, um hier rauszukommen. Ich habe Vorkehrungen getroffen, aber wenn er die richtigen Leute an den Apparat bekommt, sitzen wir beide für den Rest unserer Tage hier ein.“ Sie gingen so schnell wie es unauffällig möglich war in Richtung Haupttor. Klara zeigte dabei immer wieder ihre Dienstmarke und rief „Zurückbleiben-Ansteckungsgefahr!“ Sie hatte sich inzwischen eine FFP2-Maske angezogen.

Als sie das Haupttor erreichten, ließ sich der Diensthabende nicht so leicht einschüchtern. Er bestand darauf die Situation zu klären, bevor er sie würde passieren lassen.
„Dann rufen Sie diese Nummer an, das ist der Minister für Staatsgesundheit.“
„Ich würde lieber nicht.. .Ich meine…Ich spreche lieber mit meinem Chef“, sagte der Mann kleinlaut.
„Und der hat welche Befugnisse?“, schnauzte Klara ihn an. „Sie wollen doch sicher ihren Job behalten?“ Verunsichert sah er zwischen ihr und dem Telefon hin und her. Klara hatte ihr Handy – das hier unter Verschluss gelegen hatte – von ihm entgegengenommen und eine Nummer gewählt. Jetzt hielt sie es dem Uniformierten unter die Nase.
„Jawohl, Herr Minister! Selbstverständlich Herr Minister“, sagte dieser nach einer Weile. Dann schloss er eilig die Tür auf und ließ die beiden Damen passieren.

Bloß jetzt nicht rennen, schön unauffällig langsam zum Wagen gehen, ermahnte Klara sich. Ihre Mutter schaute ungläubig und lief hinter ihr her. Erst als sie im Wagen saßen platzte es aus ihr heraus.
„Klara bist du verrückt geworden? Du verlierst deinen Job wenn das hier rauskommt. Sie werden dich einsperren! Denk an deine Familie!“
„Es war tatsächlich ein bisschen zu einfach“, gab sie zurück. Sie drehte den Zündschlüssel und ließ den Motor an. In dem Moment sah sie im Rückspiegel, wie das große Tor der Strafanstalt aufgestoßen wurde und mehrere schwer bewaffnete Männer Position bezogen.
„Wird Zeit, dass wir hier verschwinden! Kopf runter!“
Die ersten Schüsse trafen das Heck. Die nächste Salve ging daneben, weil Klara, die dem Wagen inzwischen die Sporen gab, ein Ausweichmanöver fuhr. Dann bog sie in eine Seitenstraße ab.
„Kind was machst du denn da? Das ist doch verrückt!“, rief ihre Mutter.
„Das wird noch besser! Wart’s mal ab. Jetzt zahlt sich das Fahrerinnentraining das ich mit Papa gemacht habe hoffentlich aus. Ich bin sicher, dass sie uns folgen werden.“ Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen tauchte ein schwarzer, gepanzerter G Mercedes hinter ihnen auf. Ihre Mutter begann zu wimmern.
„Mach dir keine Sorgen, ich habe mir den Fluchtweg eingeprägt, wir werden sie abschütteln.“
„Und wenn andere uns den Weg abschneiden?“
„Sie werden Straßensperren errichten ja, aber ich weiß, wie wir sie umfahren können.“
Der Geländewagen kam allerdings immer näher. Klaras Hände waren schweißnass. Sie musste sich konzentrieren. Noch wenige Kilometer, dann würden sie hinter einer Hofeinfahrt verschwinden und das Fahrzeug wechseln können. Den G
musste sie vorher loswerden.
Sie hielt das Lenkrad gerade und fuhr mit atemberaubender Geschwindigkeit durch eine Gasse, an deren Ende eine hohe Mauer lag. Kurz davor gab es einen schmalen Weg nach links. Sie nahm all ihren Mut zusammen, beschleunigte noch etwas mehr und zog kurz vor der Mauer die Handbremse. Der Wagen drehte sich und schoss in den kleinen Weg. Im Rückspiegel sah sie, wie der G an der Abzweigung vorbeisauste. Dann vernahmen sie einen lauten Knall.

*****

Ihr war flau im Magen. Klara lenkte den Wagen durch ein hohes Tor in einen Hof. der nicht eingesehen werden konnte. Dort wartete bereits ein Kombi.
„Los Mama, wir haben nicht viel Vorsprung!“, rief Klara ihr zu und deutete auf die Tür hinter dem Beifahrersitz. Als sie sich mit einem Seufzer auf die Rückbank fallen lies, wurde sie von Jubelschreien begrüßt.
„Oma endlich! Wir dachten schon du kommst nicht mit.“
Ihre Enkel neben ihr hüpften aufgeregt auf und ab. Auf dem Beifahrersitz saß ihr Schwiegersohn Patrick, der jetzt erleichtert seiner Frau einen Kuss gab.
„Was habt ihr vor?“, fragte sie atemlos.
„Mama hat uns ein Abenteuer versprochen!“, riefen die Kinder wie aus einem Munde. „Sie hat gesagt wir gehen auf ein Schiff.“
Sie sah ihre Tochter, die inzwischen auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte, über den Rückspiegel fragend an.
„Bodensee!“, lautete ihre knappe Erklärung. „Dein ehemaliger Chefredakteur hat eine Yacht, auf der
er gelegentlich hohe Herren empfängt, weshalb der Grenzschutz ihn weitestgehend in Ruhe lässt.“
Gudrun hatte noch nicht verstanden.
Er bringt uns in die Schweiz…“

Sie fuhren langsam, um nicht aufzufallen, nutzten Seitenstraßen und Feldwege. Als sie den Hafen von Überlingen erreichten,
atmete Gudrun gedehnt aus.
„Ihr gebt hier alles für mich auf?“
„Ach Mama, ich habe mir sehr lange etwas vorgemacht. Deine Festnahme war wohl mein Weckruf.“
„Aber Patrick und die Kinder?“
„Die werden sich daran gewöhnen. Ich hoffe für uns alle auf einen Neuanfang mit echten Aussichten.“
„Wie hast du das mit dem Minister eigentlich hingekriegt?“
„Das am Telefon war nicht der Minister, sondern jemand dem ich vertrauen kann.“
Sie schnalzte mit der Zunge. Sie hatte ihr Mädchen vollkommen unterschätzt.

„Gudrun! Schön dich an einem Stück wiederzusehen!“, rief eine sonore Stimme. Der großgewachsene Mann in Cordhose und Holzfällerhemd kam auf sie zu und breitete die Arme aus. Sie freute sich, Rolf, ihren ehemaligen Chefredakteur zu sehen und ließ sich von ihm ans Herz drücken.
„Danke, dass du so viel für mich – nein – für uns riskierst.“
„Bedanke dich, wenn wir drüben sind. Die Spatzen pfeifen euren Stunt bereits von allen Dächern. Die Nachrichten schweigen sich allerdings noch aus. Bevor sie die Peinlichkeit öffentlich machen, hoffen sie wohl noch darauf, dass sie dich wieder
einfangen. Die Alternativen sind hier ja nicht endlos. Sie werden bald eins und eins zusammenzählen. Besser wir machen uns auf den Weg.“

Wird es die Familie in die neutrale Schweiz schaffen? Wie geht es Gudrun damit, dass sie ihre Mitstreiter zurücklassen musste? Wird sich Widerstand im In- und Ausland formieren, um das System doch noch zu stürzen?
Wenn wir uns nicht vorsehen, könnten wir möglicherweise schon in vier Jahren vor die gleiche Wahl gestellt werden.
Also bleibt wachsam und mitmenschlich!

*****

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