Diese Geschichte entstand im Rahmen des Kreativworkshops der Autorinnenlounge von Sissi Steuerwald und Tamara Leonhard. Die Aufgabe war eine Kurzgeschichte zu verfassen, in der wir den ersten Satz vervollständigen. Wir hatten dazu dreißig Minuten Zeit.
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Die Nacht lag schwer über meinem Dorf, während ich nicht zur Ruhe fand. Irgendwo in der Stille rollte der Gedanke heran, dass die Vergangenheit mehr ist als bloße Erinnerung. Vergangenheit – was schließt das überhaupt ein?, fragte ich mich. Nur die Zeiten, die ich selbst überblicken kann, oder alles, was vor mir kam? Die Wissenschaft der westlichen Welt sagt, Erinnerungen an vorangegangene Geschehnisse webten sich in unsere Zellen ein und vererbten sich. Epigenetik nennen sie es. Ich brauche keine Epigenetik, um zu wissen, dass sie recht haben. Ich kann meine Ahnen fühlen – wie das Blut, das durch meine Adern pulsiert. Es waren viele über die Jahrtausende, starke und schwache. Sie haben viel Gutes vollbracht, aber auch Sünden begangen. In Nächten wie diesen spüre ich ihre Gegenwart.
Großmutter erklärte mir, ich hätte die Gabe. Sie sagte es, wie andere sagen: „Morgen wird es regnen.“ Es hat mich buchstäblich von den Füßen geholt. Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, lag ich am Boden. Sie hielt meinen Kopf, der in ihrem Schoß auf dem weiten, wallenden, dunkelbraunen Rock ruhte. Sie wiegte mich langsam hin und her. „Die Gedanken sind schwer, ich weiß“, murmelte sie.
„Hast du die Gabe auch?“, fragte ich leise.
„Ja, und ich habe gelernt, damit umzugehen, wie mit einem Schatz. Du musst aufpassen, dass sie dich nicht überwältigt, weil du mit den Bildern sonst unterzugehen drohst.“
Ich habe mich nicht daran gehalten, mich zwar innerlich dagegen gewehrt, Botschaften zu empfangen, aber weil ich mich der Unterweisung durch ältere Ahnenflüsterer verweigerte, erlitt ich immer wieder Zusammenbrüche. Ich konnte nicht verarbeiten, was ich sah. Das änderte sich erst, als Nana in mein Leben trat. Sie ist keine Flüsterin, sie hat eine andere Gabe: die des Sehens. Sie schaut nicht zurück, sondern nach vorn. Nana sieht die Zukunft. Als ich begriff, was das bedeutet, öffnete ich ihr meine Seele – und das Wunder geschah.
Wir wurden eins. Seither drücken sich die Geister der Ahnen und die Stimmen der Zukunft durch uns gemeinsam aus. Wir sind Teil des großen Rates in unserem Dorf und lenken die Geschicke aus dem Wissen dessen, was war und was kommt.
Doch nun stehen wir vor neuen Herausforderungen, vielleicht der letzten unserer Art, denn die Zukunft hat entschieden, sich vor dem dritten Auge zu verbergen. Die Stimmen sagen, wir hätten zu lange mit dem Feuer gespielt. Der Ausgang sei nicht zu beschreiben mit Worten, die wir verstehen können.
Es wird ein großes Feuer kommen, wenn wir nicht lernen, als Gemeinschaft zu fühlen, zu denken und zu handeln. Nur wenn wir wie ein Körper werden, können wir die Gefahr noch abwenden.
Nana und mir fällt die Aufgabe zu, bei Tagesanbruch die Dörfler davon zu überzeugen, diese Prophezeiung zu erfüllen. Ich hoffe inständig, dass es uns gelingt, denn sonst sind wir alle verloren.
Wenn wir aber Erfolg haben, kann unser kleines Dorf zur Keimzelle des Wandels für den Planeten werden.
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