Goldenes Leuchten

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Meine Mutter meint ich sei furchtbar blass. Sie hat meine Zurückhaltung noch nie verstanden. »Jedes Jahr das gleiche Drama. Im Winter verkriechst du dich so lange im Dunkeln, bis du vergisst, wie schön es ist, draußen an der frischen Luft zu sein«, lamentiert sie auch diesmal. Ich habe den Verdacht sie denkt, ich halte mich nicht für schön genug, im Vergleich zu den anderen.

Dabei ist es das gar nicht. Ich bin einfach sehr verfroren. Schlimmer noch, ich habe panische Angst davor, vom kalten Winter überrascht zu werden. Ich habe das schon einmal erlebt. Kaum draußen, wurde ich von Schneemassen buchstäblich begraben. Manche meiner Gefährten haben das Desaster nicht überlebt. Daher finde ich meine Sorgen durchaus berechtigt. Allerdings ist es dauerhaft keine Option, sich hier unten zu verkriechen, das ist mir bewusst.

Also unternehme ich heute den zaghaften Versuch eines Ausbruchs. Als ich meinen Kopf vorsichtig herausstrecke kitzelt mich die Sonne und ihre Wärme lässt mich übermütig werden. Vielleicht hätte ich doch schon früher ins Freie gehen sollen? Es riecht nach frischem Gras und als ich mich umsehe stelle ich fest, dass ich nicht allein bin. Auch andere hatten den Drang hinaus. Jetzt erst spüre ich, wie ich ihre Gesellschaft vermisst habe.

Wir leuchten aus unserer Mitte goldgelb mit der Sonne um die Wette. Was für eine Farbenpracht!

Nur, wenn wir alle gleich aussehen, was macht mich dann einzigartig? Oder ist es gar nicht wichtig, anders zu sein als alle anderen? Sind wir zusammen nicht mehr als jede einzelne von uns?

Meine Gedanken sind noch nicht zu Ende gedacht, da bewegt sich ein Mensch auf die Gruppe zu, die mir am nächsten ist. »Schau mal Liebling, sind diese Narzissen nicht ein Traum! Lass uns ein Selfie machen» Während sie noch darüber in Verzückung gerät wie schön wir aussehen, trampelt sie schon einzelne von uns nieder. Ich kann mich gerade noch rechtzeitig zur Seite ducken, um nicht das gleiche Schicksal zu erleiden. Nachdem sie mit ihrer Begleitung um die Wette in ihren kleinen Kasten hineingelächelt hat, dreht sie sich noch einmal um.
»Weißt du was Schatz? Ich denke deine Mutter würde sich freuen, wenn wir ihr ein paar Blumen mitbringen. Diese hier mit den orangefarbenen Sprenkeln im Zentrum sehen besonders schön aus, findest du nicht?«

Oh nein, sie spricht von mir und meinen Nachbarn! Ich bin nicht schöner als alle anderen und auch nicht einzigartig, ich bin einfach nur eine Narzisse, die mit ihren Geschwistern die Frühlingssonne genießt. Bitte lass mich hier sein…

Das letzte was ich wahrnehme ist ein fester Ruck an meinem Stängel, dann wird es dunkel in meinem Herzen. Jetzt muss ich wieder ein ganzes Jahr warten, bis ich hinaus darf.

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