Die vielen Gesichter der Wüsten Marokkos

Heidi Metzmeier Icon

Dies ist die Erzählung zum zweiten Teil unserer Marokkoreise 2025. Wenn du den ersten Teil über die Atlantikküste verpasst hast, kannst du ihn hier nachlesen.

Besuch der Nomaden des Draa-Tals

Zugegeben ich bin nervös. Es geht endlich in die Wüste, also herrscht Vorfreude. Aber die Tour von ca. 200 km in und durch das Tal des Draa-Flusses ist über weite Strecken abgelegen und einsam. Wir haben beschlossen das Abenteuer zu wagen, auch ohne Begleitung eines weiteren Fahrzeugs.

Der Einstieg wird mir erleichtert, denn wir biegen zunächst in ein Guelta ab, also zu einem Flusslauf, der von Palmen gesäumt wird. Während wir Camp aufschlagen, finden sich die ersten Dromedare ein. Neugierig schauen sie zu uns herüber. Einem Jungtier allerdings ist die Sache mit dem sandfarbenen, viereckigen Höcker nicht geheuer. Es ruft die ganze Zeit kehlig nach seiner Mama. Diese findet sich dann auch gemächlichen Schrittes ein und führt ihr Junges in den Palmenhain. Über die Zeit sammeln sich immer mehr Tiere und mit ihnen kommen die Fliegen. Diese finden sich durch die geöffnete Heckklappe bei uns im Landy ein. Nellie wird irre beim Versuch nach ihnen zu schnappen, aber sie lernt schnell, dass es keinen Sinn hat.

Der Nachmittags-Spaziergang führt uns an einem Berg entlang, der geformt ist wie ein Vulkankegel. Wir können uns vorstellen, dass dies ein heiliger Ort gewesen sein könnte, allein von der Atmosphäre. Wie auf Kommando kommt ein Serie-Land Rover die Piste entlang gehoppelt und hält unter einer Gruppe Palmen. Ältere Männer steigen aus, erklimmen den Fuß des Berges, entzünden ein Feuer, machen Tee und beten. Wir schauen uns das aus respektvoller Distanz an.

Etwas später stellt sich heraus, dass der Landy eine Panne hat. (Nein, jetzt keine Witze über Land Rover oder markige Sprüche zu Toyotas, bitte!) Peter versucht zu helfen, aber es braucht offenbar mehr als einen Batteriebooster. Noch vor Einbruch der Dunkelheit trifft ein Mechaniker ein und macht das alte Wüstenschiff wieder flott. Das wiederum finde ich sehr beruhigend. Bevor die Nacht alle Schatten verschluckt, sind wir allein. Der Sternenhimmel über uns ist gigantisch.

Der nächste Morgen erwartet uns mit Nebel. Eine solche Szenerie habe ich noch nie gesehen. Man kann die Palmen und die Berge um uns herum nur erahnen, aber es ist nicht kalt, sondern mollig warm. Meine Haut ist irritiert. Auf der Morgenrunde mit Nellie verliere ich unser mobiles zu Hause sehr schnell aus den Augen. Bevor wir mit dem Frühstück fertig sind ist der Spuk vorbei. Wir folgen weiter dem Flusslauf. Irgendwann verzweigt sich das Pistensystem allerdings, so dass wir kurzzeitig nicht mehr genau wissen, wo es langgeht. Da wir uns an der Landschaft grob orientieren können, erreichen wir die Straße zum nächsten Ort ohne Probleme.

Hinter Tilemsoun geht es nun wirklich in die Wüste: Bunte Felsen, knorrige Akazien, Kakteen und Wüstenkürbisse. Die ersten Kilometer Piste sind eine einzige steinige Katastrophe, so dass wir mit nicht sehr viel mehr als 15 km/h vorankommen. Nach 50 km erreichen wir ein Hochplateau, auf dem wir Camp aufschlagen. Die Zähne haben lange genug aufeinandergeschlagen. Wir brauchen alle drei eine Pause.

Steinwüste umgibt uns und wir können von hier oben in die Weite schauen. Auf dem Mond ist es vielleicht nicht sehr viel anders. Rechts von uns ragt ein Felsmassiv auf, der Jebel Quarziz, der uns bis zum Ende der Tour in Assa begleiten wird. Er bildet die Grenze zu Mauretanien und Algerien. Eine Landmarke, die wir zur Orientierung gut gebrauchen können.

Nachts heult der Wind ungebremst um den Landy. Ich muss mir Ohrstöpsel suchen, um einschlafen zu können. Peter neben mir schläft wie ein Baby, er liebt es, wenn der Landy schaukelt. Erst in den frühen Morgenstunden schlafe ich ein und werde gleich darauf von Peter wieder geweckt, denn die Morgensonne taucht die gegenüberliegenden Berge in ein tiefes Rot. Ein Anblick, den ich nicht verpassen sollte. So schön!

Während wir unserer Morgenroutine folgen, geht Nellie mit sich selbst spazieren. Sie genießt diese neue Freiheit unendlich, ist danach aber leider auch schwer wieder einzufangen. Wer will es ihr verdenken?

Das Hoppeln auf Stein ist glücklicherweise alsbald beendet. Wir durchqueren Wadis in denen grüne Bäume stehen, folgen Sandpisten und sind dann wieder auf Piste mit Kieselsteinen unterwegs. Zur Mittagspause möchte ich im Schatten einer Akazie parken. Die Äste dieser Bäume haben allerdings fiese Dornen. Peter erzählt, dass seine letzte Begegnung mit platten Reifen endete. Also doch lieber sicheren Abstand halten. Gegen Ende des zweiten Tages erreichen wir schließlich den Flusslauf des Draa. Dort wo er Wasser führt, ist es deutlich grüner, der Kontrast zur felsigen Umgebung bizarr. Hier begegnen uns die ersten Söhne der Wüste auf ihren Motorrädern. Sie halten an, für ein kleines Schwätzchen mit uns.

Vielleicht ein Wort zur Navigation: Wir sind mit elektronischem Kartenmaterial unterwegs, das sehr detailliert Pisten aufführt. Allerdings hat es im Süden Marokkos – vom Draa-Tal bis in den Erg Chebbi – stark geregnet. Das erste Mal seit Jahrzehnten. Diese Regenfälle ließen Flüsse ansteigen. Die Flussläufe haben sich teilweise drastisch verändert. Hier im breiten Draa-Tal war über Kilometer die Landschaft überflutet. Pisten von einst gibt es nicht mehr. Es ist daher ratsam, sich nicht sklavisch an das Kartenmaterial zu halten, sondern man muss die Spuren vor Ort lesen und natürlich mit den Nomaden sprechen, wenn die Wegeführung uneindeutig ist.

Diese Regel missachte ich an einer Stelle und schicke Peter mit dem Landy damit in eine Situation, die man als Piste nicht mehr bezeichnen kann. Es geht quer durch das Flussbett, über Wurzeln und durch Matsch, über spitzes Geröll und querliegende Äste hinweg, den Damm hinab und wieder hinauf. Peter und der Landy machen ihre Sache großartig. An der Stelle, an der wir wirklich nicht mehr weiterwissen, treffen wir glücklicherweise auf Einheimische. Sie erklären uns sehr bereitwillig, wo der aktuelle Weg verläuft. Ich räume noch schnell ein paar Akazienäste zur Seite, dann geht´s weiter.

Wir erreichen jetzt einen sehr fruchtbaren Bereich, in dem entsprechend viele Nomaden mit ihren Herden unterwegs sind. Ich bin fasziniert davon, dass diese archaische Lebensweise hier noch funktioniert. Die Familien besitzen Schafe, Ziegen und Dromedare in teils riesigen Herden. Diese ziehen durch das grüne Tal und die Nomaden ihnen hinterher. Jedes Mal, wenn sie den Platz wechseln, werden die über fünfzig Jahre alten und noch gut laufenden Land Rover mit allen Habseligkeiten bepackt und an anderer Stelle das Zelt neu aufgeschlagen. Kinder sind in diese Abläufe integriert. Schulbildung ist auf diese Weise natürlich schwieriger zu vermitteln. Sie lernen dafür ganz andere Dinge, die ihnen das Überleben in dieser Umgebung ermöglichen. Uns würden sie jetzt gerne eine junge Ziege verkaufen, kaum ein paar Tage alt. Sie läuft ihnen hinterher wie ein Welpe. Wir lehnen höflich ab.

Mein Seitenfenster zu öffnen ist nicht mehr möglich. Der feine Staub der Piste wird soweit aufgewirbelt, dass er dunkle Wölkchen bildet und jede Sicht verfinstert. Auch die Scheiben in der Kabine sind inzwischen von einer dicken Staubschicht belegt. Nellie liegt im Dunkeln. Dieser „Fesch-Fesch“ kriecht, zumindest vorne, in jede Ritze. Fegen zwecklos. Die letzte Dusche ist ohnehin drei Tage her. Das kostbare Wasser trinken wir lieber.

An diesem Abend versagt das Schloss. Wir bekommen die Tür zur Kabine nicht mehr auf. Glücklicherweise hatten wir die Zwischentür vor dem Spaziergang nicht eingehängt. So kann Peter über den Beifahrersitz nach hinten klettern und die Tür von innen aufschließen. Statt Sonnenuntergangsromantik ist jetzt Reparatur angesagt.

Die Erde des Draa ist so fruchtbar, dass hier sogar Getreide ausgesät wird. Was mich am meisten begeistert, sind die vielen bunten Blumen. Um die nächste Ecke ist die Landschaft wieder so karg, dass gar nichts wächst. An abgelegenen Plätzen entdecken wir hin und wieder Stellen, die in charakteristischen Formen mit Steinen abgesteckt sind. Peter vermutet, dass es sich dabei um Nomadengräber handelt. Auch „Moscheen“ werden auf diese Weise – mit den Mitteln die vor Ort verfügbar sind – markiert.

Irgendwer hat auch hier die Unsitte angefangen, Kinder mit Geschenken zu „beglücken“. Das hat zur Folge, dass wir – je weiter wir ins Nomadenland vordringen – immer häufiger von Kindern angehalten werden. Sie formulieren die immer gleiche Frage: „Hast du Bonbons, einen Stift, ein Hemd für mich?“ Hier wird die Bitte höflich vorgetragen und sie nehmen es mit Gleichmut, wenn man verneint. An anderer Stelle sind allerdings regelrechte Banden entstanden, die Touristenautos bedrängen, um an das zu kommen, was ihnen ihrer Meinung nach zusteht. Im Extremfall Forderungen nach Geld. Natürlich sind wir in den Augen dieser Kids reich und könnten etwas von unserem Wohlstand abgeben. Es wäre mir aber lieber, sie für eine kleine Dienstleistung zu entlohnen, oder ihnen eine Ware abzukaufen.

Wir selbst waren jedenfalls für fünf Tage der Natur und uns selbst sehr nahe, hatten Abstand von Trubel, Internet und schlechten Botschaften. Ich bin entsetzt, als mein Mobiltelefon wieder Empfang vermeldet und über 100 Mails und ebenso viele Social Media Nachrichten empfängt. Die Wüste schirmt dich ab und lässt dich zu Atem kommen.

Das Oued Tata

Der Fluss Tata führt durch eine Stadt gleichen Namens. Sie ist hübsch angelegt, mit einem zentralen Markplatz und lebendigen Straßenzügen mit Arkaden. Man muss allerdings schon etwas robuster sein, um das Angebot zu ertragen. Drahtgestelle mit lebenden Hühnern sind übereinandergestapelt; beim Metzger gibt´s heute Dromedar, dessen Kopf einem – falsch herum an einem Seil aufgehängt – entgegenlächelt. Daneben verkauft einer Obst und Gemüse. Der Schneider sitzt an seiner Nähmaschine, der Elektroniker daneben lötet an völlig verstaubten Großbildschirmen.
Hier sind Fernsehapparate übereinandergestapelt. Dort hängen Autokühler und Auspuffrohre. Ein Haus weiter werden Metalltürverzierungen zusammengeschweißt.
Zwischen Mobilfunkladen und Bekleidungsladen betreibt der Bäcker sein Geschäft, direkt auf dem Gehweg. Bei ihm bekommt man frisch gebackenes Brot, direkt aus dem Ofen.
Peter ist besonders begeistert vom Meister der Gewürze, der die Mischung für Tarjine aus der Hand aufs Gramm genau auswiegt.
Es ist ein munteres Durcheinander, aber in absoluter Harmonie. Als Peter Auto-Ersatzteile sucht, schickt uns der Einzelhändler kurzerhand zur Konkurrenz. Hauptsache der Kunde ist glücklich. Als ich beim Orangenhändler anstehe, drückt der mir erst einmal ein Stück warmes Brot in die Hand, bevor ich seine eigenen Waren kosten darf.

Nach einer Weile bemerkt Peter, dass die Menschen hier keine Aggressivität ausstrahlen. Kein Drängeln, kein Autohupen, keine lauten Diskussionen wie ich sie aus anderen Teilen Afrikas unter Männern kennengelernt habe. Entspannung, bis der Muezzin loslegt – der ist hier nämlich so laut, dass uns fast das Trommelfell platzt.

Zur Religion nur so viel, denn wir sind keine Experten: Wir erleben die Menschen hier als Gläubige, die ihren Islam zwar lieben, aber nicht vor sich hertragen, oder mit Sendungsbewusstsein unterwegs sind. Wir können natürlich nicht sagen, wieviele sich wirklich zu der Glaubensrichtung bekennen, aber auffällig ist, dass die Moscheen zu jeder Tageszeit voll sind, im Vergleich zu unseren Kirchen. Die gesungenen Verse der Imame wirken auf mich eher meditativ als indoktrinierend. Wir wurden gelegentlich gefragt, welcher Religion wir angehören, aber immer respektvoll. Dass der Islam grundsätzlich eine gute Glaubensform ist, davon sind hier viele – nicht nur die Alten – überzeugt.

Eine Pflanze, die im Koran als „himmlischer Segen“ erwähnt wird ist übrigens das Basilikum. Es ist hier in der Stadt überall gepflanzt, auch an den Moscheen. Basilikum zu berühren, heißt es, soll die Pflanze stärker machen. Tatsächlich beobachten wir immer wieder, wie – insbesondere Männer – mit der Hand durch deren Blätter streichen.

Wir müssen Geld tauschen. Ich statte der Postbank in Tata einen Besuch ab und werde direkt in ein separates Zimmerchen gebeten, wo mich der freundliche Mitarbeiter hinter dem Bildschirm sogleich fragt, ob ich einen Tee möchte. So geht das hier immer. Ich denke ich kann das Geschäft abkürzen, indem ich ablehne. Weit gefehlt! Der freundliche Herr schickt eine Salve Fragen in meine Richtung, um herauszufinden, was von Tata und seiner Umgebung wir schon gesehen haben. Ich komme nicht weg, bevor er mir nicht jede Sehenswürdigkeit einzeln ans Herz gelegt hat. Der Geldwechsel wird zur Nebensache. Ich frage mich, ob er vielleicht heimlich lieber im Touristikbüro arbeiten würde. Marokkaner lieben ihr Land, so viel ist sicher.

Außerhalb der Stadt in Richtung Norden erreicht man eine Landschaft die ihresgleichen sucht. Die Felsen weisen Zeichnungen auf, Rillen wie mit dem Rechen gezogen, mal längs, mal quer, mal kreisrund, mal wie eine Acht. Der Stein leuchtet orange, rot, hellbraun oder gar schwarz, glänzt teilweise als wäre er nass. Im Flussbett stehen vereinzelte Akazienbäume, manche sehr alt, verbogen und gewunden. Irre!

Wir entscheiden uns, dem Flussbett eine Weile zu folgen. Vielleicht können wir hier einen schönen Übernachtungsplatz finden. Während der Fahrt durch Sand und über Steine macht der Land Rover ein klapperndes Geräusch, das Peter in den Wahnsinn treibt. Also versuchen wir die Quelle zu finden, ziehen alle Kisten raus, hängen Kleidungsstücke und Rucksäcke ab, horchen hierhin und dahin, aber das dumpfe Rumpeln bleibt unergründlich. Dann entscheide ich mich, zu Nellie nach hinten in die Kabine zu gehen, um der Quelle besser auf den Grund gehen zu können. Und siehe da, der Lärm kommt aus unserer Vorratskiste. Die Flasche mit dem Olivenöl ist der Übeltäter…

Hier im Flussbett können wir schlussendlich nicht bleiben, weil es am Boden ganz viele fiese Pflanzen mit Widerhaken gibt, die Nellie in die Füße beißen. Also fahren wir noch ein Stück weiter. Eigentlich wäre hier eine Teerstraße, aber auch der Tata war nach den Regenfällen zum reißenden Fluss geworden, der alles mit sich gerissen hat. Die Straße wurde unterspült und davongetragen, die Leitplanken liegen – zu seltsamen Skulpturen verformt – weit weg im Flussbett. Die zerstörerische Kraft der Natur ist weithin sichtbar, lange nachdem das Wasser gegangen ist.

Wir finden ein Plätzchen für die Nacht an einer Stelle abseits der Piste, neben dem Flussbett. Hier sind wir von Bergen umringt und ganz allein. Peter sammelt Holz. Als es dunkel ist, entfachen wir ein kleines Feuer; das erste der Reise! Nellie streift derweil durch das Flussbett. Sie hat uns die Freundschaft gekündigt. Zu lange im Landy hin und her geworfen worden vermutlich. Sie kommt erst wieder, als ein Moped das Flussbett hinaufknattert. Ein kleines Licht, das seinen Weg in der Dunkelheit scheinbar mühelos findet. Für uns in dieser Umgebung unvorstellbar. Wo will der bloß jetzt noch hin?

Irikisee und Erg Chegaga

Wir sind nicht mehr allein unterwegs, sondern mit Freunden aus Berlin. Steffi, Peter und ihr Hund Altin sind mit einem VW-Bus Syncro seit Jahresanfang unterwegs und haben uns endlich eingeholt. Als andere Reisende in Geländewagen, Unimogs oder LKWs hören welche Tour wir vorhaben, schütteln sie ungläubig die Köpfe. „Das ist mit dem Syncro aber eine Herausforderung!“
Mein Peter sagt zu seinem Kumpel: „Halb so wild, das meiste ist fahrerisches Können. Das schaffst du schon.“

Die erste gemeinsame Nacht im Wildcamp verbringen wir außerhalb der Stadt Foum Zguid im Sand mit Blick auf Berge, die wie Tajinetöpfe aussehen. Nellie und Altin rennen um die Wette, wir sitzen in unseren Stühlen, trinken Wein aus geheimer Quelle und bestaunen den Sonnenuntergang. So kann´s weitergehen.

Die ersten zwanzig Kilometer Piste zurm Irikisee sind Schotter. Diesmal habe ich Lust selbst ein Stück zu fahren. Die Landschaft um mich herum ist berauschend: bunte Bodendeckerpflanzen, schroffe Felsen und vereinzelte knorrige Bäume.

Als der Schotter den ersten zaghaften Sandhügeln weicht, beginnen wir mit der Suche nach einem geeigneten Nachtlager. Am Fuß einer roten Düne werden wir fündig. Wir klettern alle miteinander hinauf und lassen uns staunend in den Sand fallen. Vier Menschen, zwei Hunde und ganz viel Natur um uns herum. Bei Nellie bricht der Hütehund durch. Sie sitzt da, aufrecht wie eine Ikone und fixiert die Umgebung. Zum Sonnenuntergang gibt’s ein Selfie, dann ziehen wir uns in die Autos zurück, denn nachts wird es hier noch empfindlich kalt.

Nellie hält es in dieser Umgebung nicht im Auto. Sobald sich ein erster Streifen blauen Lichts am Horizont abzeichnet will sie raus. Wir machen die Tür auf und lassen sie springen. Später hört Peter vom Hügel gegenüber den Ruf eines Wüstenfuchses. Vielleicht fühlt er sich durch unseren wuscheligen Reisebegleiter gestört. Peter kann gerade noch einen Blick auf das Tier erhaschen, bevor es hinter der Bergkuppe verschwindet. Nellie liegt friedlich unter dem Auto, als wir mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen rauskrabbeln.

Wir nähern uns dem Nationalpark Iriki-See, was daran zu erkennen ist, dass es überall grünt und blüht. Es hat in dieser Region zum ersten Mal seit sechzig Jahren geregnet. Selbst die Marokkaner sind aus dem Häuschen, weil viele von ihnen die Wüste in dieser Region noch nie mit so vielen bunten Blumen gesehen haben. Überall riecht es nach Kamille.

Die Tücke beim Fahren ist, die Spuren zu erwischen, die trocken und fest sind. Wenn wir uns zu weit in Richtung See vorwagen, könnten wir steckenbleiben.

Dann erreichen wir die Ausläufer des Erg Chegaga und damit die ersten höheren Dünen. Der perfekte Moment für die nächste Pause. Wir verlassen die Hauptpiste und suchen uns ein ruhiges Plätzchen, möglichst versteckt, zwischen den Sandhügeln. Der Syncro hat zum ersten Mal die Gelegenheit zu zeigen, was er kann, denn Peter schickt unsere Freunde quer über die Sandhügel. Sie lösen die Aufgabe perfekt und so sind wir im Camp von Sandriesen umgeben. Wie ich das vermisst habe! Wir spazieren die Dünen hinauf und hinunter, setzen uns auf die höchste Stelle und schauen dem Wind dabei zu, wie er am Dünensaum Sandfähnchen aufwirbelt. Nellie jagt mit Altin derweil dessen Ball hinterher.

Zum Sonnenuntergang besetzt jede Familie ihre eigene Düne. Ein Moment der Stille, den wir in uns aufnehmen, damit sich unsere Seelen daran erinnern mögen, wenn die Zeit dafür reif ist.

Die nächste Etappe ist Sandfahrt vom Feinsten. Zunächst bewegen wir uns auf so etwas wie einer Tiefsandautobahn, mindestens dreispurig. Der Wagen sucht sich seine Ideallinie selbst. Wir haben die Luft in den Reifen so weit reduziert, dass sie mehr Auflagefläche haben und damit dem Untergrund gewachsen sind. Peter und Steffi, die das Gefühl mit dem Auto auf Sand zu surfen noch nicht kennen, sind in Dauereuphorie. So schön mitzuerleben.

Die Sandwüste hier ist insofern besonders, als knorrige, große Bäume teilweise mitten auf den Dünen wachsen. Dazwischen grünt, blüht und summt es ohne Unterlass.

Uns irritiert schon seit einer Weile der Geruch nach Getriebeöl. Haben wir ein Problem? Nachdem der „Duft“ uns für Kilometer nicht verlässt, kommen wir drauf, dass nicht unsere Autos die Quelle sind, sondern eine Pflanze, die hier überall wächst. Sie heißt Spinnenpflanze oder Cleome ambylocarpa und ist ungeachtet ihres Gestanks als Heilpflanze in Nordafrika beliebt, soll gegen Diabetes, Koliken und Rheuma wirken und sogar Schmerzen lindern.

Als das Grün immer dichter wird, fragen wir uns, ob wir noch auf dem richtigen Weg sind. Aus dem Nichts taucht – einmal mehr – ein Einheimischer auf, der uns erläutert, dass die Südumfahrung, die wir eigentlich vorhatten, derzeit nicht passierbar ist. Also müssen wir schweren Herzens auf die Rumpelpiste zurück, wobei wir jedoch zur rechten Seite weiter von den Hügeln des Erg Chegaga begleitet werden. Wir packen die Kompressoren aus und pumpen die Reifen wieder auf, damit sie auf dem steinigen Untergrund keinen Schaden nehmen.

Als die roten Dünen wieder näher rücken, beschließen wir, dorthin abzubiegen und uns ein Nachtlager zu suchen. Die Anfahrt ist diesmal insbesondere für den Syncro etwas beschwerlich. Erstmals werden Schaufeln und Sandbleche gebraucht, aber die Belohnung ist ein grandioser Übernachtungsplatz, dem wir mit viel zu vielen Fotos huldigen. Das Lagerfeuer am Abend ist unser i-Tüpfelchen auf diesem abwechslungsreichen Tag.

Heute steht die letzte Etappe an. Es geht nochmal ordentlich über Sandpiste und durch märchenhafte Landschaft. Je näher wir M´Hamid kommen, umso tiefer werden die Mulden im Untergrund. Sie sind gefüllt mit feinem Staub. Tückisch, insbesondere für Motorradfahrer. Später hören wir, dass ein Schwede – dem wir zuvor begegnet waren – sich bei einem Sturz in dieser Gegend das Bein zweifach gebrochen hat. Das traurige Ende einer Safari durch die Wüste. Wir haben für einen Moment die Befürchtung, dass der Syncro das Terrain wirklich nicht packt. Nach intensivem Kartenstudium entscheiden wir uns für eine Ausweichpiste, die uns und den Syncro sicher ans Ziel bringt. Glückwunsch an die Crew. Was für ein toller Ritt!

Oase Fint,  Gara Medouar  und die Ausläufer des Erg Chebbi

Marokko hat viele Oasen, besonders sehenswert ist beispielsweise die Oase Fint bei Ouazazate. Sie war mehrfach Kulisse für Filmaufnahmen, was ich sofort nachvollziehen kann, als wir sie sehen. Hier liegen kugelrunde schwarze Felsbrocken übereinander, als hätte Obelix sie aufgetürmt. Dahinter stehen rote Felswände, die in ein Flussbett abfallen, das reichlich Wasser führt und von zahlreichen Palmen gesäumt wird. Der Weg zur Ecolodge eines Franzosen, auf der man als Camper stehen kann, führt durch die schmalen Gassen eines kleinen Lehmdorfs. Peter ist sich zunächst sicher, dass das nicht die richtige Anfahrt sein kann, aber als wir das Dorf hinter uns gelassen haben, taucht vor uns die Anlage auf. Es ist wie im Märchen. Kleine Lehmhütten als Unterkünfte, ein großes Restaurant, edel im marokkanischen Stil gehalten, mehrere Parkflächen für Geländefahrzeuge und eine Landschaft, die fast wie eine Motivtapete wirkt. Es gibt einen markierten Wanderweg, dem man für Stunden folgen und dabei die tiefer im Tal liegenden Dörfer besuchen kann. Auf dem Pfad begegnen uns immer wieder Frauen die Feldarbeit leisten. Sie unterhalten sich angeregt miteinander, lachen und singen. Zwischen den Palmen tummeln sich Esel. Datteln baumeln uns buchstäblich in den Mund. Wir sind begeistert vom Geschmack dieser süßen aber recht trockenen Früchte. Die Mandelbäume blühen bereits. Bienen fliegen geschäftig umher. In einem Kanal schwimmen Schildkröten. Was für ein Paradies!

Und dann geht´s doch noch einmal in den Sand! Wir haben spontan beschlossen Richtung Osten zu fahren und landen zwischen Dünen. Das Wildcamp im Tal des Todra-Flusses liegt in der Nähe von Bodenausgrabungsstätten, aber die Arbeiter lassen uns gewähren, winken einfach freundlich aus der Ferne.

Unser Ziel ist Gara Medouar. Dabei handelt es sich um eine geologische Formation, die geformt ist wie ein Hufeisen und solitär mitten im flachen Wüstengebiet aufragt. Im elften Jahrhundert wurde sie zu einer Festung umgebaut, indem die Öffnung mit einer zwölf Meter hohen Wand verschlossen wurde, die allerdings inzwischen zu großen Teilen eingestürzt ist. Die Formation hat schon immer die Phantasie der Filmindustrie beflügelt. Der erste Streifen der hier gedreht wurde war „Die Mumie“. Viele von euch werden den Ort jedoch aus dem James Bond Film „Spectre“ kennen. Das Hauptquartier der gleichnamigen Organisation, die vom Halbbruder und Gegenspielers von Bond (Daniel Craig), Oberhauser (Christoph Waltz) geführt wird, wurde hierhin verlegt. Die Anfahrt auf das Gebilde ist eindrucksvoll. Sehr viel spektakulärer ist jedoch der Blick der sich einem eröffnet, wenn den oberen Rand des Kraters erreicht hat. Ein Ausflug, der sich definitiv lohnt. Umso mehr, als wir uns auf einer steilen Piste durch die gegenüberliegende Hügelkette zwängen und dahinter einen traumhaft einsamen Übernachtungsplatz finden.

Die letzte Nacht in der Wüste verbringen wir unweit des Erg Chebbi, zwischen kleineren Dünen. Die großen roten Riesen sind in der Entfernung auszumachen. Dort soll es am Grenzgebiet zu Algerien am schönsten sein. Das ist eine Tour, die wir uns für den nächsten Besuch aufheben werden. Diesmal begnügen wir uns mit den leichten Wellen, die dahingeworfen sind wie ein Seidentuch. Nellie sitzt wie immer auf dem Dünenkamm und schaut in die Weite. Wir genießen gemeinsam den letzten glutroten Sonnenuntergang und verabschieden uns.

Peter und ich hatten uns zu Beginn gefragt, ob uns die Wüste auch diesmal noch so faszinieren würde, wie vor Jahren. Wir haben unsere Antwort gefunden. Sie ist und bleibt ein besonderes Stück Natur, in dem man sich verlieren und wiederfinden, sich entladen und wieder auftanken, sich konfrontieren und befreien kann. Es war wohl nicht das letzte Mal.

Der marokkanische Möbelrestaurator

Die Rückreise ist ein Parforce-Ritt durch die Vegetationszonen, vorbei am der Gorge de Ziz, durch das Plateau des mittleren Atlas, an Meknes und Fes vorbei (sorry, vielleicht nächstes Mal) bis nach Chefchouan. „Die blaue Stadt“ ist ein perfekter Abschluss. Wir tauchen noch einmal ein in die Atmosphäre die wir an marokkanischen Städten zu lieben gelernt haben: Lebendige Souks, volle Straßencafés, weitläufige Markplätze mit hoch aufragender Medina.

Schon in wenigen Tagen wird all das tagsüber wie ausgestorben sein, denn mit dem März kommt der Ramadan. Dann kehren wir zurück nach Europa. Schon an der marokkanischen Mittelmeerküste nahe Ceuta, wo wir auf einem Caravanstellplatz die letzte Nacht verbringen, sind wir aus dem Muster gefallen. Die Orte bestehen aus Luxusvillen. Auf der Straße räumen Hundertschaften den Müll weg. Es ist alles „künstlich schön“. Wer Marokko so als Reisender entdeckt, wird es nicht kennenlernen.

Als besonderes Kuriosum empfinden wir den Weihnachtsbaum aus grünen Flaschen, der den Hoteleingang ziert, in dem die Rezeption für das Camp untergebracht ist. Wir gönnen uns am Abend eine letzte Tajine im Hotelrestaurant. Beim Bezahlen baut sich der Besitzer hinter seinem Tresen auf und fragt Peter, was er arbeitet. Als dieser beschreibt, dass er antike Möbel und Holzobjekte restauriert hat, nimmt sich der Hausherr ein Blatt Papier und breitet es vor uns aus. Dann beginnt er zu zeichnen, was er „den marokkanischen Möbelrestaurator unter der marokkanischen Sonne“ nennt. Es ist ein sehr treffendes und schön gezeichnetes Bild eines Mannes, der arbeitend, barfuß auf einem Teppich kniet, vor sich ein Schränkchen mit mehreren Schubladen. Der Clou ist gar nicht mal die Zeichnung an sich, sondern die Art wie sie entsteht. Der Meister zeichnet nämlich so, dass wir – die vor ihm stehen – sehen können, wie sich das Motiv entfaltet. Dazu muss er das Bild aus seiner Perspektive kopfüber malen. Sowas habe ich noch nie gesehen. Das Kunstwerk dürfen wir als Erinnerungsstück behalten.

Meine letzte Reise durch Marokko lag fünfzehn Jahre zurück. In dieser Zeit hat sich viel in diesem Land verändert. Der König hat sich einiges vorgenommen, um den Anschluss seines Landes an die erste Welt zu schaffen. Bei der Infrastruktur und dem Verkehr ist er auf einem sehr guten Weg, beim Thema Müll gibt es noch viel Aufholbedarf. Die Marokkaner nehmen Gäste mit offenen Armen auf und ich bin ein ums andere Mal beschämt, beim Vergleich mit dem, was wir zu Hause gerade diskutieren. Marokko ist kein typisch afrikanisches Land, eher arabisch. Die Frauen sind im Straßenbild oft unterrepräsentiert, aber wenn sich unsere Blicke treffen, dann mit einem Lächeln. Wir verstehen uns, auch ohne Worte.
Und inschallah, so Gott will, sehen wir uns wieder…

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Bildrechte: Peter Schulz, Peter + Heidi Metzmeier

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